Rezension

Interessant, einiges habe ich nicht gewusst...

Unter den Linden 6 - Ann-Sophie Kaiser

Unter den Linden 6
von Ann-Sophie Kaiser

Bewertet mit 4 Sternen

Der steinige Weg von Frauen zur Bildung...

„Unter den Linden 6“ von Ann-Sophie Kaiser beschreibt die unterschiedlichen Wege dreier Frauen in der Zeit von 1907 – 1915. Anni, Hedwig (beide fiktiv) und Lise (gemeint ist Lise Meitner, eine österreichische Kernphysikerin, deren Weg hier sehr gut nachempfunden werden kann) treffen sich durch Zufall und es beginnt eine Freundschaft.

Gemeinsam ist ihr Wunsch auf / nach Bildung, während ihre Herkunft kaum unterschiedlicher sein könnte: Lise hat bereits in Wien in Physik promoviert und möchte gern in Berlin bei Max Planck weiterforschen. Hedwig kommt aus einem gutbürgerlichen Haushalt, hat zwar das Abitur, aber Vater und Ehemann lehnen ein Frauenstudium kategorisch ab. Hedwig will einen Sanatoriumsaufenthalt ihres Mannes nutzen und fälscht seine Unterschrift unter die „Erlaubnis“ zum Studieren. Jedoch scheitern beide vorerst an den Gepflogenheiten des universitären Betriebes: „Bei uns in Preußen läuft es so: Sie sind eine Frau und Frauen können an dieser Universität nicht immatrikulieren. Wir sind eine Traditionsuniversität!“ (S.36) Höchstens als Gasthörerinnen sind sie zugelassen – wenn es der Professor erlaubt, deshalb muss dieser Status auch mühsam erkämpft werden… Anni arbeitet als Dienstmädchen und hat sich bisher heimlich durch die Bücherregale ihres Arbeitgebers „gearbeitet“. Sie muss eine neue Stelle in Berlin antreten und hofft, dass ihr neuer „Herr“ auch wieder eine gut ausgestattete Bibliothek besitzt…

Ich habe diese drei Frauen auf ihren Wegen begleitet, habe bei Lise viel über Radioaktivität erfahren (und auch so, dass sogar ich als Physikmuffel einiges verstanden habe!), bei Hedwig einige interessante Neuigkeiten über den Kampf der Frauen auf Bildung, die Frauenbewegung in ihren Gründerjahren (politische Versammlungen waren für Frauen absolut verboten!). Anni war mir besonders sympathisch, da sie den weitesten und beschwerlichsten Weg zur Bildung zu gehen hatte, aber sie verfolgt ihn konsequent und meistert die Hürden.

Der Roman hat mich nachdenklich zurückgelassen: ich habe so selbstverständlich studiert, ohne jemals darüber nachzudenken, dass diese Möglichkeit ein langer und mühsamer Kampf voraus gegangen war, bei dem meine „Vorgängerinnen“ vielen Anfeindungen ausgesetzt waren (hier noch einmal zur Erinnerung: das Frauenwahlrecht wurde erst 1919 erlaubt!). Die Autorin merkt in ihrem Nachwort an: „Allerdings liegt der Frauenanteil unter deutschen Professoren und Professorinnen auch heute – hundert Jahre später – noch bei nicht einmal einem Drittel.“ (S.452)

Der Schreibstil war ausgesprochen flüssig, die Kapiteleinteilung mit der Zuordnung der jeweiligen Protagonistin sehr hilfreich, der Zeit- und Lokalkolorit wunderbar eingefangen (bei einigen Szenen war ich regelrecht „dabei“), aber einige kleine Einschränkungen muss ich leider machen: meiner Meinung nach hätte der Mittelteil etwas gekürzt werden können, so war es teilweise etwas langatmig, zum Schluss nahm die Handlung wieder an Fahrt auf. Für zwei weitere Punkte ist die Autorin nicht unmittelbar verantwortlich: das Cover (das von der Idee her gut zum Buch passt) wirkt verrutscht, die oberste Frauenfigur scheint fast geköpft zu sein, während am unteren Bildrand noch viel freier Platz ist. Und schöne Grüße an das Lektorat: auf S. 268 steht statt „mich dünkt“ (‚dünken‘ veraltet für ‚scheinen‘ – passt perfekt an dieser Stelle) „mich düngt“ – da war ich doch etwas irritiert, auch andere kleine Fehler hatten sich eingeschlichen…

Aber insgesamt hat mir das Buch gut gefallen, ich hatte den Eindruck, dass Frau Kaiser sehr ausführlich und methodisch recherchiert hat und uns dadurch ein lebhaftes Bild der damaligen Zeit zeichnen konnte. Und ich habe wieder eine Menge gelernt… Deshalb: eine klare Weiterempfehlung…