Rezension

Interessant gemachter Krimi

Der Hochsitz -

Der Hochsitz
von Max Annas

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Mit seinem neuen Roman „Der Hochsitz“, im Juli beim Rowohlt Verlag erschienen, wagt sich der für seine Kriminalromane bereits fünf Mal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnete Schriftsteller Max Annas (58) in die entlegensten Niederungen westdeutscher Provinz gegen Ende der Siebziger Jahre und widerlegt mit seiner facettenreichen Geschichte die gängige Meinung, auf dem Land sei die Welt noch in Ordnung. Doch dieser Schein trügt: In einem kleinen Eifel-Dorf an der Grenze zu Luxemburg werden Banken ausgeraubt, Drogen geschmuggelt, zwei RAF-Terroristinnen verbergen sich im Wald, ein Deutsch-Amerikaner bietet Bauern für ihre Höfe überhöhte Summen und dann gibt es sogar noch einen Mord. Der Dorfpolizist fühlt sich von Amts wegen nicht zuständig, den Kriminalbeamten aus der Stadt fehlt der nötige Durchblick.
Zum Glück sind gerade Osterferien. So haben die Schülerinnen Sanni und Ulrike viel Zeit, sich neben ihrer Jagd nach Fußballer-Klebebildern fürs selbstgebastelte Sammelalbum – die WM '78 in Argentinien steht bevor – auch noch den Mörder zu jagen. „Wir sind elf Jahre alt. Aber wir sind nicht blöd. Würden sie [die Erwachsenen] uns ernster nehmen, wenn wir Jungs wären? Vielleicht. Wahrscheinlich. Ganz sicher eigentlich.“ Sanni ist die Forschere von beiden und Erzählerin, braucht aber die Besonnene: „Ulrike ist schlau. Sonst wäre sie auch nicht meine beste Freundin.“
Von den Erwachsenen unverstanden, ziehen sie sich in ihre eigene Welt zurück: „Wenn man sich ernsthaft unterhalten will, muss man einen Ort haben, an dem das überhaupt möglich ist. [….] Zum Glück haben wir den Hochsitz. [….] Wir stehen lange auf der Plattform und gucken auf unser Dorf. Einfach so.“ Sanni und Ulrike beobachten im Dorf viel, auch wenn sie nicht alles verstehen. Aber dass der einzige Langhaarige nicht der Bankräuber sein kann, das wissen sie genau, denn ihn haben sie zum Tatzeitpunkt mit einer Blondine im Heuschober beobachtet. Doch den Mörder des Motorradfahrers vom Petershof wollen sie finden. So machen sie sich beim Austragen des Anzeigenblattes bei Abwesenheit der Hausbewohner auf detektivische Suche nach dem schwarzen Anzug, dem Umhang und Schlapphut und vor allem dem Drillingsgewehr des Täters.
Aus Andeutungen bastelt Max Annas ein schillerndes Kaleidoskop des Jahres 1978: Es ist die Zeit des RAF-Terrors, der im Krimi durch zwei junge Frauen in die Provinz vordringt. Wir erfahren von dunklen Machenschaften in der NS-Vergangenheit, die erst jetzt ihren Rächer finden. Schließlich erfahren wir, dass mit dem Drogenschmuggel die organisierte Kriminalität auch in diesem beschaulichen Winkel Westdeutschlands bereits Fuß gefasst hat. Doch all dies verstehen Sanni und Ulrike nicht und sie interessieren sich nicht dafür. Sie schneiden lieber ein paar Fotos aus einem Fahndungsplakat aus und kleben das Porträt des gesuchten Christian Klar neben Rainer Bonhof ins Sammelalbum, weil ihnen noch Bilder deutscher Fußballer fehlen.
„Der Hochsitz“ ist ein ungewöhnlicher, in seinem Aufbau gewöhnungsbedürftiger, aber gerade deshalb interessant gemachter Krimi: Mehrere Handlungsstränge laufen nebeneinander, kreuzen sich gelegentlich. Es scheint anfangs an durchgängiger Handlung zu fehlen. Momentaufnahmen wirken zusammenhanglos. Beobachtungen der beiden Mädchen, von ihnen selbst oft nicht verstanden, kommen hinzu. Was nur scheinbar wie ein „Hanni&Nanni“-Roman für Erwachsene beginnt, entlarvt kaleidoskopartig die bundesdeutsche Provinz und ihre Bewohner als nicht so harmlos, wie man glauben mag.