Rezension

Interessant konstruierter Roman mit aufschlussreichem Inhalt

Augenstern -

Augenstern
von Shahriar Mandanipur

Was werden wir im Laufe unseres Lebens vergessen? Unsere erste Liebe? Ungerechtigkeiten gegenüber unserer Familie? Oder doch nur das, was wir vergessen wollen: traumatisierende Erlebnisse, die einfach zu schlimm erscheinen, um sie zu erinnern?

Amir ist vor dem Sturz des iranischen Schah Reza in 1979 ein Lebemann in dieser weltoffenen und mitunter sehr progressiven Gesellschaft. Er genießt nicht nur den Alkohol sondern auch die Frauen. Gefühlt alle Frauen Teherans, aber dazu gleich mehr. All das erfahren die Lesenden jedoch erst nach und nach im Roman. Und zwar nicht durch Amir sondern durch die sogenannten "Schulterengel" Amirs. Gemäß der islamischen Tradition zeichnen sie auf der rechten und linken Schulter einer Person sitzend auf, was diese Person in ihrem Leben denkt/sagt/tut, damit diese Aufzeichnungen am Tag des Jüngsten Gerichts festzustellen, ob die Person würdig ist, ins Paradies aufgenommen zu werden. Wir benötigen diese Aufzeichnungen, um in die Vergangenheit von Amir zu schauen. Die Handlung setzt nämlich nach dem iranisch-irakischen Krieg der 1980er Jahre ein, nachdem Amir von seiner Mutter und Schwester in einer Psychiatrie wiedergefunden wird, Jahre nachdem er im Krieg schwerst traumatisiert wurde. Er kann sich an nichts oder zumindest nicht viel erinnern und begibt sich auf eine Suche nicht nur nach seinem früheren Leben, sondern auch seiner großen Liebe.

Geschickt stellt der Autor anhand des Lebens seines Protagonisten Amir das "freie" Leben unter dem Schah und mit dem harten Einschnitt der islamischen Revolution und des darauffolgenden Krieges mit dem Irak die spätere islamische Republik dar. Amir führte ein ausschweifendes Leben mit viel Geld, Alkohol und Frauen. Die Frauen wollte er sammeln wie Trophäen, eine für jeden Buchstaben im persischen Alphabet wollte er vögeln. Und ja, da sind wir schon beim einzigen Kritikpunkt zum Buch: Es wird über weite strecken gefickt, gevögelt usw. Ständig ist von Muschis, Schwänzen, Blüten ... die Rede. Was der Autor deutlich klarstellen will: Dass ein ausschweifendes, sexuell freies Leben zu Zeiten der modernen Monarchie überhaupt möglich war, wird nach den ersten zwei oder drei Beispielen von Affären deutlich. Leider übertreibt er es meines Erachtens ein wenig und bringt dann doch zu viele Beispiele Amirs Sexlebens im Buch an. Zugutehalten muss ich dem Autor, dass alle dieser "Sexobjekte" als selbstbestimmte Frauen dargestellt werden. Etwas, was mit der islamischen Revolution kippt. Die Frauen werden verhüllt, der Minirock verschwindet und der Hidschab taucht auf und damit auch das Ende der Freiheiten für den weiblichen Teil der Bevölkerung. Zuletzt bindet der Autor überdies noch den Kampf nach Autonomie der iranischen und irakischen Kurden in das Buch ein. Das ist alles in allem hoch informativ und bringt die historischen Veränderungen im Iran aber auch das Drumherum, um es mal salopp zu sagen, den Lesenden auf einer persönlichen Ebene sehr nahe.

Insgesamt kann ich diesen Roman aufgrund seiner Direktheit, nähe zu einem menschlichen Schicksal - und damit zu vielen Schicksalen - aber vor allem auch aufgrund seines kreativen Ansatzes bezüglich der Zeitsprünge durch die Aufzeichnungen der Schulterengel sehr empfehlen.