Rezension

Interessantes Kammerspiel, ungewöhnlich erzählt, faszinierende aber unsympathische Charaktere. Der Handlung fehlt der Thrill.

Neuschnee - Lucy Foley

Neuschnee
von Lucy Foley

Bewertet mit 3.5 Sternen

Inhalt:
Neun Freunde aus Uni-Zeiten möchten ein schönes und unvergessliches Sylvester in einem abgelegenen Anwesen in den schottischen Highlands verbringen.
So unterschiedlich die Charaktere sind, wird schnell klar, dass jeder mit eigenen Dämonen zu kämpfen hat.
Kleine und große Geheimnisse drohen enthüllt zu werden.
Als das Anwesen aufgrund der Schneemassen vollständig von der Außenwelt abgeschnitten und einer der Freunde tot aufgefunden wird, droht die Situation endgültig zu eskalieren.

Mein Eindruck:
Die Charaktere sind fast alle von Beginn an unsympathisch oder zunächst nur schmückendes Beiwerk.
Miranda ist der Kern der Truppe: extrovertiert und abenteuerlustig, selbstverliebt und eine typische Ballkönigin, die leider ihre besten Zeiten hinter sich hat, während all ihre Freunde große Karrieren vorweisen können.
Julien, der Ehemann von Miranda, passt als Schönling perfekt zu ihr und wirkt durch seine großspurige, neureiche Art sehr arrogant.
Das Pärchen Emma und Mark ist erst seit kurzem liiert. Obwohl Mark seit Jahren Teil der Clique ist, erfährt man zunächst nur sehr wenig über ihn. Emma dagegen gibt sich große Mühe, dazuzugehören und ist Planerin, Köchin und Ja-Sagerin der Gruppe. Sie kann als billige Miranda-Kopie durchgehen.
Katie als einziger Single der Clique ist stille Beobachterin und hat viel von einer unscheinbaren grauen Maus. Dabei ist sie im Berufsleben erfolgreiche Anwältin.
Samira und Giles bleiben aufgrund ihrer Babyblase (sie reisen mit Baby Priya) etwas außenvor. Samira war Partyqueen wie Miranda und Giles ist der Klassen-Clown.
Weitere Randerscheinung sind Nick und sein Lebensgefährte Bo. Letzterem wird vieles nachgesehen, da er Amerikaner ist.
Interessant ist, dass nach und nach die Fassade des schönen Scheins immer mehr bröckelt und sich die Sicht auf jede der Figuren (auch auf die freundliche Hotelangestellte Heather und den schweigsamen Wildhüter Dough) wandelt. Es kommen immer neue Informationen für den Leser ins Spiel:
Jeder der Freunde hat etwas zu verbergen, ein schmutziges Geheimnis, eine dunkle Vergangenheit oder die eine oder andere Leiche im Keller. 
Eine unterschwellige Feindseligkeit liegt über der Freundschaft und die Tatsache, dass sie von der Außenwelt abgeschottet sind, lässt die Atmosphäre beklemmend und düster wirken.
Der Schreibstil im Präsens und mit ständig wechselnden Perspektiven und Zeitsprüngen ist ungewöhnlich, sorgt aber dafür, dass es nicht langweilig wird und der Leser das Gefühl bekommt, mittendrin zu sein. 
Mal werden die Ereignisse aus der Sicht von Emma und dann wieder aus der von Miranda oder des Wildhüters geschildert und immer wieder wechselt man auf der Zeitschiene von vor bzw. an Sylvester zu den Neujahrstagen und der Suche nach dem vermissten Freund, der dann tot aufgefunden wird.
Da die Vorstellung und Einführung der Charaktere erstaunlich lange dauert, wird der Leser entsprechend lange auf die Folter gespannt, wer überhaupt ermordet wurde. 
Das Ende und die Auflösung bzw. Verkettung letzter loser Fäden kommt dann allerdings sehr abrupt.
Etwas mehr Spannung hätte ich mir an einigen Stellen gewünscht. Ein Page-Turner ist es leider nicht.
Der Mord wird zur Nebensache und der Highland-Ripper ist fast gar nicht existent.
Trotzdem ist der Autorin ein interessantes Kammerspiel gelungen mit vielschichtig angelegten Charakteren in einer zunächst romantisch verschneiten und dann bedrohlichen Atmosphäre. Für die Charakterstudie vergebe ich gerne volle 5 Sterne, aber für den Thrill nur 3.

Fazit:
Ein unterhaltsames Lesevergnügen mit meist unsympathischen aber vielschichtigen Charakteren und einer gut angelegten Psychostudie in einer düsteren Atmosphäre. 
Der eigentliche Mord rückt etwas zu sehr in den Hintergrund.
Etwas mehr Spannung hätte der Handlung gut getan.
So aber ist es ein interessantes Kammerstück auf dessen Protagonisten der Spruch "mehr Schein als Sein" sehr gut passt. 

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Rezensiertes Buch: "Neuschnee" aus dem Jahr 2020