Rezension

Ironisch, erotisch, episch!

Schattauers Tochter
von Arno Orzessek

Normalerweise lese ich keine preisgekrönten Bücher mehr. Jedes Mal wenn ich mir ein solches vornahm, habe ich mir hinterher gedacht: „Wer hat jetzt keine Ahnung? Ich oder die Jury?“ (Da ich prinzipiell erstmal den Fehler bei mir suche, ist die Antwort so niederschmetternd, dass mich das Lesen solcher Bücher einfach zu sehr deprimiert).

„Schattauers Tochter“ wurde mit dem Uwe-Johnson-Förderpeis ausgezeichnet, war allerdings ein Geschenk und da ich grundsätzlich davon ausgehe, dass sich derjenige, der mir ein Buch schenkt, etwas dabei denkt, habe ich natürlich angefangen es zu lesen. Bereits nach etwa 30 Seiten war mir klar: Nein, das ist keiner dieser preisgekrönten Romane mit denen ich nichts anfangen kann. Arno Orzessek erzählt in einer sehr klaren, beinahe schon aufsässigen Sprache zwei Geschichten zu  unterschiedlichen Zeiten, die – man ahnt es – irgendwie miteinander zusammenhängen. In relativ langen Kapiteln (alles andere wäre in einem 650 Seiten Roman auch ziemlich mühselig) wird so abwechselnd die Geschichte der Titelgeberin Marie (=Schattauers Tochter) erzählt, die in den 1930er Jahren ihre streng gläubige masurische Familie für einen Mann verlässt und die in den 1970er Jahren beginnende Erzählung über Gustav Eckstein – ein wortgewandter Lehrer, der seinen Schülern zeigt welche Ziele man allein durch rhetorisches Können erreichen kann.

Damit erzählt Orzessek insgesamt 70 Jahre deutsche Geschichte, bleibt immer nah dran an seinen interessanten Protagonisten, die sich stets treu bleiben und trotzdem weiterentwickeln. Obwohl mich die jüngere Geschichte um den Lehrer Eckstein schlicht aufgrund ihrer spannenden Thematik – der Verführung durch Worte – mehr interessierte, als die Kriegsgeschichte, war gerade die Mischung von beiden, was diesen Roman ausmacht. Es sind gerade diese zwei unterschiedlichen Pole, die die Spannung des Romans erzeugen und den Leser neugierig auf deren Zusammenhang machen. Einerseits ein streng gläubiges Mädchen, das für seine erste Liebe ihrer Familie verlässt, ihre bekannte Welt hinter sich lässt und in eine neue aufbricht, die durch den 2. Weltkrieg gehörig ins Wanken gerät. Andererseits junge Osnabrücker Schüler, die ihrem neuen Lehrer aufgrund seines souveränen Auftretens verfallen und mit ihm ihre Zukunftspläne schmieden. Das Ende des Romans ist furios und ein gelungener und würdiger Abschluss dieses komplexen Werkes.

Orzesseks Erzählstil hatte es mir besonders angetan: Immer sehr präzise, mal ernst, oft ironisch und stellenweise auch sehr erotisch angehaucht, erzählt er diese komplexe und oft schwer verdauliche Geschichte stets mit einer gewissen Leichtigkeit. Er schreibt dabei scheinbar zufällig und nie bemüht so viele kluge Sätze, die auch nach der Lektüre des Buches noch lange nachhallen. Außerdem merkt man wie intensiv er sich mit seinen Hauptfiguren auseinandergesetzt hat. Sie sind keine lieblosen 08/15 Stereotype, sondern ambivalente Charaktere mit Stärken, aber auch sehr vielen Schwächen.

Zwei kleine Kritikpunkte: Für meinen Geschmack hätte der Autor auf die Thematik der „Verführung durch Worte“ gern noch expliziter eingehen dürfen und dafür auf gefühlt 1000 nebensächliche Figuren, denen er stets viel Aufmerksamkeit widmet, die man sich aber unmöglich alle merken kann verzichten können. Es wird zwar immer wieder erwähnt wie erneut jemand Eckstein aufgrund seiner großen rhetorischen Künste verfallen ist, aber wie genau er das anstellt, wird nur an sehr wenigen Stellen thematisiert.

Außerdem empfand ich die Dialoge, die stellenweise im Dialekt geschrieben waren, als ziemlich anstrengend und nervig zu Lesen. Allerdings beschränkte sich deren Verwendung größtenteils auf die erste Hälfte des Romans.

Mein Fazit:

„Schattauers Tochter“ ist ein Roman, der dem Leser im Kopf bleibt und so komplex ist, dass es sicher auch nach mehrmaligen noch Neues zu entdecken gibt. Orzesseks kompromisslose Sprache sowie zwei spannende Handlungsstränge, die am Ende zu einem großen Ganzen werden, machen diese 650 Seiten trotzdessen, dass es sich um keine leichte Kost handelt, zu einem großen Lesevergnügen.