Isolation im ersten Pandemie-Sommer
Bewertet mit 4.5 Sternen
Holger Thomann liegt im ersten Corona-Sommer nach einem Selbstmordversuch in der Klinik, sein Vater Richard lebt hochbetagt in der Uckermark, seine Enkelin Selma ist mit Kathi Kuhn, Onkologin und Palliativmedizinerin, gerade auf dem Weg zu Richard. Kathi ist offenbar mit Selmas Mutter Maria sehr verbunden. Sie kümmert sich an seinen letzten Lebenstagen um Richard; denn Maria kann in der „Ruhe vor der erwarteten Corona-Welle“ ihren Arbeitsplatz in Berlin nicht verlassen. Richard sind Leiden und Tod nicht fremd, er hat früher ein Alten- und Pflegeheim als Seelsorger betreut. Selmas Bruder Jacob, frisch in seine Kunstprofessorin Milena verliebt, würde am liebsten wieder zu seiner Mutter ziehen.
Richards Vorgänger war aus der DDR in den Westen geflüchtet. Ein Nachfolger für ihn wird nicht eingestellt und seine ehemalige Gemeinde mit der Nachbargemeinde zusammengelegt. Richards Garten wuchert zum Ärger der Nachbarn ungehemmt, ein Symbol für alles, über das man sich im wiedervereinten Deutschland aufregen könnte. Als Maria in ihrer winzigen Wohnung in Quarantäne gehen muss, bleibt zu ihrer Versorgung nur Ilvy, von der Jakob sich gerade getrennt hat. Richard steht im Thomann-Clan zwar als Patriarch im Mittelpunkt; die Verantwortung in ihrer Familie Gestrandeter trägt offenbar nur Selma als einzige Klammer, die alles zusammenhält. Der psychisch Kranke, der Sterbende, die Ärztin in Quarantäne. - Drei isolierte Familienmitglieder repräsentieren in drei Handlungssträngen die Situation der Bundesrepublik zu Beginn der Pandemie. Die verordnete Quarantäne bildet markant den inneren Zustand der Unerreichbarkeit von Düffels Figuren ab.
„Kathi Kuhn“ als Stadtpflanze (sie wird stets mit Vor-und Nachnamen angesprochen und so zum Markennamen) muss sich in der Uckermark mit dem Dorfleben in einer abgehängten Gegend herumschlagen. Selma dagegen durchlebt erneut die kleinen und großen Kränkungen einer Kindheit, in der der nichtsnutzige Bruder alle Zuwendung absorbierte. Dass Richard das Ende der Quarantäne seiner Schwiegertochter nicht mehr erleben wird, scheint nur realistisch. Auch hier wieder hochsymbolisch, scheint ein herrenloserer Kater Richards Schwäche zu spüren und übernimmt das freiwerdende Revier schon einmal vorsorglich. Tierarzt Hajo tritt als eine mehrerer zentraler Nebenfiguren auf; auf dem Land überlebt eben nur, wer vielseitig und flexibel ist. Als in Marias Wohnung Wasser aus der darüber liegenden Wohnung läuft, ist das der Beginn einer märchenhaften, geradezu orientalischen Geschichte, die gerade Maria wohl keiner ihrer Angehörigen zugetraut hätte.
John von Düffels Roman könnte man als Familiengeschichte dreier Generationen lesen, eine Familie, in der Kinder allein von Frauen erzogen werden. Es geht u. a. um Alltag in der ostdeutschen Provinz, Einsamkeit, Verzeihen können, aber auch um das Vererben von Kriegs- und Fluchttraumata an Kinder und Enkel. Bildhaft und detailreich mit phantastischem Ende – ein hochaktueller Roman.