Rezension

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Ist das Romantik? Oder Kunst? Oder doch nichts von beidem?

Kaschmirgefühl - Bernhard Aichner

Kaschmirgefühl
von Bernhard Aichner

Bewertet mit 3 Sternen

Eins Abends erhält Marie, die ihr Geld an einer Sex-Hotline verdient, einen Anruf, der ganz anders abläuft, als ihre Telefonate sonst. Der Anrufer will sich unterhalten und erzählt selbst ganz schön viel von sich selbst. Obwohl sowohl Marie als auch die Technik den Anruf immer wieder unterbrechen, lässt der Mann nicht locker und Marie und Gottlieb vertelefonieren so die ganze Nacht. 

***Spoiler*** Was Gottlieb Marie so von sich erzählt, ist im einzelnen weder wichtig noch unbedingt wahr und mit dem, was Marie ihm nach und nach von sich preisgibt, verhält es sich ähnlich. ***Spoiler Ende***

Wichtiger als das, was die beiden einander erzählen ist, was sich zwischen den Zeilen abspielt, warum die beiden das Bedürfnis haben, den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen zu wollen. Offensichtlich genießen sie die Zeit, in der sie sich geben können, wie sie wollen, ohne Risiko, etwas zu verlieren, was man noch gar nicht besitzt. 

Bernhard Aichners Roman, der ausschließlich in Dialogform die Gespräche von Marie und Gottlieb wiedergibt, vermittelt, was sich zwischen den beiden im Laufe der Nacht entwickelt: ein Gefühl, oder zumindest die Ahnung davon. 

Dieses 'Kaschmirgefühl' ist so zart, dass der unromantische (oder nur nüchternere) Leser es womöglich erst auf den dritten oder vierten Blick erkennt. Nicht für jeden ist es nachvollziehbar, warum die beiden tatsächlich Interesse aneinander entwickeln - zwei vollkommen Fremde. Kommt es wirklich darauf an, was wir in unserem bisherigen Leben erlebt haben, wenn wir uns in jemand Neues verlieben und muss derjenige das alles wissen, um Interesse an uns zu entwickeln?
Die Antwort, die der Roman darauf gibt ist 'Nein'. Es geht nur um das Gefühl, gerne Zeit miteinander verbringen zu wollen und die Magie des Anfangs, wenn man eben den anderen noch gar nicht kennt und trotzdem schon von demjenigen träumt und bis auf die Person an sich alles andere noch unbekannt und daher offen für jede Möglichkeit ist.

So oder so ähnlich ist bestimmt die Absicht des Romans, was sich ja auch ganz romantisch anhört. Ich selber konnte mich damit jedoch nicht identifizieren, weil mir das ganze einfach zu unrealistisch erschien und an ganz praktischen Fragen scheitert (wieviel hundert Euro ist man bereit, in eine lyrische Nacht zu investieren, wenn's das nächste Café evtl. doch auch täte?). Vielleicht - wenn es denn am anderen Ende DIE Traumstimme wäre, dann wäre das evtl. noch eher nachfühlbar. Das müssen aber die Hörer des Hörbuches entscheiden. Gelesen nicht wirklich 100%ig nachfühlbar.