Rezension

"Ist es richtig, etwas zu tun, nur weil alle anderen es auch tun?"

Alles Licht, das wir nicht sehen
von Anthony Doerr

ein wunderbarer, tief berührender Roman

Dieser Roman verknüpft die Schicksale zweier Kinder bzw. Jugendlicher, die sich für einen kurzen Augenblick im Jahre 1944 in Saint-Malo begegnen.

Die erblindete Marie-Laure ist mit ihrem Vater aus Paris in das Haus seines Onkels in Saint-Malo geflohen. Marie-Laures Vater ist Angestellter des "Muséum National d'Historire Naturelle", in dem seine Tochter quasi aufwächst. Der Museumsdirektor vertraut Marie-Laures Vater das kostbarste Stück der Sammlung an, um es vor den Nazis zu retten.

Der Vater baut für Marie-Laure nicht nur das Pariser Viertel, in dem sie leben, sondern auch Saint-Malo in Miniaturformat nach. Die Häuschen sind teilweise mit komplizierten Mechanismen ausgestattet, so dass sie sich öffnen lassen.

Werner, ein Waisenkind aus dem Ruhrgebiet, ist technisch sehr begabt, was ihm zur Aufnahme eines Elite-Internats der Nazis verhilft. Er kommt zu einer Sondereinheit, die 1944 nach Frankreich kommt.

In vierzehn Kapiteln, angefangen von Null, verwebt Anthony Doerr das Leben der beiden Protagonisten im August 1944 und in Rückblicken. Diese Kapitel sind in kurze, mitunter nur eine halbe oder eine Seite langen, Abschnitte unterteilt, in denen die Perspektiven wechseln. Dabei gibt es einige unerwartete Wendungen, die sich ganz natürlich in die Geschichte einfügen.

Anthony Doerr hat einen sehr poetischen Schreibstil, es gibt sehr viele Stellen mit wunderbaren Vergleichen, so z.B. "Die Eier schmecken wie Wolken. Wie gesponnenes Gold." Dieser Schreibstil steht im Kontrast zum Thema und den schrecklichen Geschehnissen, die durchaus beschrieben werden.

Das Buch ist auch optisch und haptisch ein Genuss: Der Umschlag zeigt die Silhouette von Saint-Malo in unterschiedlichen Blau- und Grüntönen gehalten, der Titel in großen weißen Buchstaben, der Name des Autors und des Verlags in Gold. Das Lesebändchen rundet den guten Gesamteindruck ab.

Für mich wirken insbesondere zwei Sätze nach:

Werners Schwester fragt: "Ist es richtig, etwas zu tun, nur weil alle anderen es auch tun?"

und "Jede Stunde, denkt sie, fällt jemand aus dieser Welt, für den der Krieg eine Erinnerung war." 

Anthony Doerr hat für diesen wunderbaren Roman den Pulitzer-Preis bekommen.

Ich hätte gern mehr als 5 Sterne gegeben, es ist eines der schönsten Bücher, die ich je gelesen habe.