Rezension

Jeanine Cummins - American Dirt

American Dirt - Jeanine Cummins

American Dirt
von Jeanine Cummins

Bewertet mit 5 Sternen

Der 15. Geburtstag ihrer Nicht Yénifer wird für Lydia kein fröhliches Fest, sondern der schlimmste Albtraum: 14 Familienmitglieder werden von dem gefürchteten Kartell Los Jardineros brutal ermordet, nur sie selbst und ihr Sohn Luca können durch einen glücklichen Zufall überleben. Ihr ist klar, dass sie nicht in Acapulco bleiben können, sondern schnellstmöglich fliehen müssen. Der Anschlag galt in erster Linie ihrem Mann Sebastián, der wenige Tage zuvor ein detailliertes Portrait des Leaders Javier veröffentlichte. Aber er war ebenso eine Warnung an sie, denn sie ist es, die Javier seit Jahren kennt und regelmäßig trifft. Zunächst wusste sie nicht, wer der charmante und charismatische Kunde war und selbst nach der Erkenntnis musste sie sich eingestehen, dass er einer ihrer engsten Vertrauten geworden war. Die Liebe zur Literatur hatte die Buchhändlerin mit dem brutalen Killer zusammengebracht. Jetzt muss sich Lydia mit ihrem 8-jährigen Sohn auf den gefährlichen Weg gen Norden machen, der auch ohne die Angst vor den einflussreichen Narcos lebensgefährlich ist.

 

„American Dirt“ ist vermutlich eines der meist diskutierten Bücher des Jahres 2020. Erst wurde die Autorin allseits gepriesen, von einflussreichen Buchclubs wie jenem von Oprah Winfrey mit viel Lob versehen, bevor sich die Stimmung ins Gegenteil verkehrte und man der Autorin vorwarf, sich eine fremde Sache anzueignen, da sie keine mexikanischen Wurzeln hat, und das Land aus einer rassistischen Perspektive zu präsentieren, so dass sie letztlich sogar ihre Promotour für das Buch absagen musste. Man kann diese Diskussion verfolgen und führen, diesseits des Atlantiks mutet die Schärfe bisweilen etwas absurd an und bei der Frage, ob das Buch überzeugt, zählt für mich in erster Linie der Text selbst. Hier ist mein Urteil eindeutig: eine spannende Geschichte, die auch sprachlich herausragt und vor allem durch ihre authentisch wirkenden Figuren überzeugt.

 

Die Gewalt der mexikanischen Banden ist seit vielen Jahren leider das Einzige, was man als Meldung aus dem Land erhält. Zahlreiche Menschen, die spurlos verschwinden, ganze Städte, die verängstigt und fest in der Hand der narcotraficantes sind, die inzwischen ihr Geschäft weit über den Drogenhandel hinaus ausgedehnt haben. Genau in deren Visier gerät Lydia, bescheidene Inhaberin einer kleinen Buchhandlung. Schon die Eröffnungsszene, die den Mord an ihrer Familie beschreibt, setzt die Stimmung für das Buch. Die Menschen leben in einer konstanten Angst, zum Teil berechtigt wie bei Sebastián, der als Journalist besonders gefährlich lebt, zum Teil aber auch, weil viel Willkür und Zufall die Gewalt begleitet.

 

Die Flucht aus dem Land ist so ein quasi unüberwindbares Problem: sobald ihre Namen irgendwo auftauchen, sie ihre Kreditkarte verwendet, hat man ihre Spur. Es bleibt letztlich nur der Weg mit „La Bestia“, jenen Güterzügen, auf denen die illegalen Einwanderer Richtung USA ihr Leben für Freiheit und Sicherheit riskieren. Weder Lydia noch Luca haben die Ereignisse, vor denen sie weglaufen, verarbeitet als sie schon mit neuer Gräuel konfrontiert werden. Mit zwei honduranischen Schwestern schließen sie bald eine Notgemeinschaft, die Mädchen fliehen vor einer ähnlichen Lage und gerade wegen ihres attraktiven Aussehens erregen sie besonders schnell Aufmerksamkeit, die auf diesem Weg jedoch zur echten Gefahr für sie wird.

 

Die riskanten Zugfahrten, ebenso wie die Begegnungen mit Drogenkartellen aber auch der Polizei und letztlich der beschwerliche Fußweg, um mit Hilfe eines Coyoten durch die Wüste in die USA zu gelangen, werden sprachgewaltig geschildert. Genauso die Figuren, jene kleine Gemeinschaft, aber auch all die anderen, die ihnen auf dem Weg begegnen und sie ein Stück begleiten, sind keineswegs Stereotypen, sondern ganz im Gegenteil sehr differenzierte und vielschichtige Charaktere. Vor allem Cummins starke Bildersprache hat mich sehr überzeugen können, keine hundert Mal gelesenen Metaphern, sondern eindringliche Vergleiche lassen den Roman lebendig und auch authentisch wirken.

 

Ja, man sollte über diesen Roman sprechen, aber weniger aufgrund der Begleiterscheinungen, sondern weil er eine der bemerkenswertesten Veröffentlichungen des Jahres ist.