Rezension

Jeder kann seine Fesseln lösen...

Ein anderer Takt - William Melvin Kelley

Ein anderer Takt
von William Melvin Kelley

Warum zerstört Tucker sein Eigentum? fragen sich die Einwohner von Sutton, einem fiktiven Ort in einem fiktiven Südstaatenland der USA, entgeistert. Der afroamerikanische Farmer Tucker Caliban, Abkömmling ehemaliger Sklaven, ruiniert eines Tages sein Ackerland, indem er eine Fuhre  Salz „sät“, er erschießt sein Vieh, brennt sein Haus nieder und zieht mit seiner Familie und nur  wenig Gepäck auf und davon. Der schwarze Teil der Bevölkerung Suttons scheint  -  nach dem ersten Erstaunen  -  Tuckers Beweggründe begriffen zu haben und folgt seinem Beispiel, so dass  nach und nach zunächst die Stadt und dann der Bundesstaat seine farbigen Arbeitskräfte verliert.

Eine direkte Antwort auf das Warum gibt der Autor in seinem Roman nicht. Er nähert sich der  Rassenproblematik schrittweise, indem er sie aus den Perspektiven unterschiedlicher (allerdings nur weißer) Personen aus Tuckers Umgebung beleuchtet. Durch die differenzierten Gedanken und Erinnerungen der einzelnen erzählenden Charaktere erstellt Kelley nicht nur ein Porträt Tuckers, sondern setzt ihn und sein folgenreiches Handeln zugleich in den großen Kontext von Rassentrennung  und Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sein schlicht gehaltener Schreibstil  -  verständlich für alle Leserschichten  -  passt sich dabei dem Ton der Bevölkerung an und lässt die Figuren authentisch erscheinen.

Obwohl Tucker selbst gar nicht zu Wort kommt, ist er es, der den Rhythmus des Romans bestimmt; mit seinem für die Weißen unbegreiflichen Akt, der Vernichtung seiner bisherigen Lebensgrundlage, ändert er den Takt, nach dem das Leben in Sutton jahrzehntelang ablief, in einer Art gewaltlosem Widerstand.

Kelleys Roman, bereits 1962 in New York erschienen, aber jetzt zum erstenmal ins Deutsche übersetzt, hat nicht an Aktualität eingebüßt  -  rassistisches Gedankengut wird wohl immer einen Nährboden haben. Umso wichtiger ist es, dass Autoren wie William Melvin Kelley Gehör verschafft wird!