Rezension

Jeder Mensch gehört sich selbst

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

In seinem neuesten Roman erzählt Bernhard Schlink das Schicksal von drei Frauen einer Familie. Verbunden werden Grossmutter, Mutter und Tochter dabei durch Kaspar, den Ehemann der Grossmutter, welcher sich in diesem Buch auf die Suche nach den Lebensspuren jeder einzelnen Frau begibt und dabei in das Leben in der ehemaligen DDR und das gegenwärtige bei den völkischen Siedlern eintaucht.

Als der 70jährige Buchhändler Kaspar eines Abends aus seinem Geschäft nach Hause kommt, findet er seine alkoholkranke und depressive Frau Birgit tot in der Badewanne vor. Ob es Selbstmord oder ein Unfall war, lässt sich nicht klären. Nachdem Kaspar die ersten Phasen von Schock, Trauer und Wut überwunden hat, beginnt er damit, in Birgits kleinem Zimmer aufzuräumen, in welches sie sich zuvor immer mehr zurückgezogen hatte, um an einem Roman zu schreiben. Als er auf das unvollendete Manuskript stösst, muss Kaspar bei der Lektüre feststellen, dass seine Frau viele Geheimnisse vor ihm hatte, von denen er nie etwas geahnt hätte. Kaspar aus der BRD und Birgit aus der DDR hatten sich in Ostberlin kennengelernt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Dafür wäre der junge Student auch zu ihr in die DDR gezogen. Doch Birgit wollte dem Druck der Diktatur entkommen und mit Kaspar im Westen leben und lässt sich von ihm zur Flucht verhelfen. Dass sie zuvor ein Kind von einem verheirateten Parteifunktionär auf die Welt gebracht und ihrer Freundin Paula übergeben hatte, davon ahnte Kaspar nichts und sollte es auch nie erfahren. Bis zu dem Moment, an dem er es in Birgits Aufzeichnungen las. Aus ihnen sprechen tiefe Schuldgefühle dem zurückgelassenen Neugeborenen gegenüber und die Sehnsucht nach einem Kennenlernen des mittlerweile längst erwachsenen Mädchens. Kaspar begibt sich an Birgits Stelle auf die Suche nach Svenja und findet sie schliesslich im Mecklenburgischen, wo sie zusammen mit ihrem Mann Björn und ihrer 14jährigen Tochter Sigrun in einer völkisch nationalen Siedlung lebt. Im Verlauf des Romans setzt Kaspar alles daran, seiner Enkelin eine Welt abseits von Rassismus und Holocaustleugnung zu zeigen. In den Ferien, in welchen sie ihn besuchen darf, öffnet er ihr das Herz und die Sinne für die Musik und die Schönheit der Sprache, ermöglicht ihr das Klavierspiel und zeigt ihr Menschen und Welten, die sie eigentlich nicht kennen soll. Doch die Prägung und Erziehung, die Sigrun genossen hat, lässt sich so einfach nicht abschütteln...

Bernhard Schlink behandelt in seinen Romanen gerne Phasen der deutschen Geschichte und beleuchtet die politischen Umstände, welche Menschen prägen und zu dem machen, was sie sind. Das ist auch in «Die Enkelin» so. Der Autor ist ein ruhiger und sensibler Erzähler, dessen Figuren einen noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind wichtig und aktuell und laden ein, sich eingehender mit der deutsch-deutschen Geschichte zu befassen und darüber, ruhig auch kontrovers, zu diskutieren. Dabei geht es um wichtige Fragen wie diese: Wohin führen die Unfähigkeit, für sich selbst einzustehen und der Drang, es allen rechtmachen zu wollen? Wie bewahrt man sich seine Menschlichkeit in unmenschlichen Systemen? Sei es innerhalb der eigenen Familie oder innerhalb eines politischen Gefüges. Wem ist damit gedient, wenn angesichts einer erkannten Wahrheit notwendige Auseinandersetzungen und Diskussionen vermieden werden, weil man fürchtet, dadurch einen anderen möglicherweise zu verlieren?

Mit «Die Enkelin» ist Schlink einmal mehr ein wichtiger, berührender und sehr tiefgründiger Roman gelungen, den ich sehr gerne weiterempfehle.