Rezension

Jeder Mensch hat seine eigene Farbe

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki - Haruki Murakami

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
von Haruki Murakami

Bewertet mit 4.5 Sternen

Zum Inhalt: Am Anfang gliedert sich Murakamis Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" in zwei Erzählstränge: in der Gegenwart lebt der 36-jährige Tsukuru Takari in Tokio und hat seine seit Kindertagen bestehende Faszination für Bahnhöfe zum Beruf gemacht. Er arbeitet bei einer Eisenbahngesellschaft und ist für die Planung von Bahnhöfen verantwortlich. Sein Leben ist relativ emotions- und leidenschaftsarm. Mit seinem Beruf ist er "nicht gerade zufrieden, aber auch nicht unzufrieden – Ich mache das, was tagtäglich anfällt. Für Zweifel habe ich keine Zeit." Zu Tokio hat er "eine rein berufliche Beziehung", die Stadt selbst bedeutet ihm nichts. Sein Leben ist relativ kontaktarm und besteht hauptsächlich aus der beruflichen und häuslichen Routine, durchbrochen von seinem regelmäßigen Schwimmtraining und dem Beobachten der routinierten Regelmäßigkeit an unterschiedlichen Tokioter Bahnhöfen.

Der zweite Handlungsstrang spielt in der Vergangenheit, zu Beginn von Tsukurus Studium, als er von einem Tag auf dem anderen von seinen vier engsten Freunden, die er schon seit der Schulzeit kennt, aus deren Kreis verstoßen wird. Er bekommt keine Erklärung dafür und Tsukuru selbst ist nicht in der Lage, nach den Gründen zu fragen. Es folgt ein halbes Jahr, in dem Tsukuru dem Tod näher als dem Leben ist, er verliert jeden Lebensmut und wünscht sich jeden Tag den Tod. Erst nach langen schmerzhaften Monaten gelingt es ihm, im Leben wieder Fuß zu fassen.

Nachdem die zentralen Ereignisse der Vergangenheit erzählt sind, konzentriert sich die Handlung auf die Gegenwart. Der einzige Farbklecks in Tsukurus routiniertem, eintönigen Leben in der Gegenwart ist seine neue Freundin Sara Kimoto, die neue Beziehung ist in einer noch sehr lockeren Phase, doch im Verlauf der Geschichte rückt sie für Tsukuru mehr und mehr ins Zentrum seines Denkens und er erkennt, dass er zum ersten Mal im Leben eine Frau wirklich liebt. Ihr erzählt er auch von der "Wunde", die ihm als junger Mensch zugefügt worden ist, und die noch immer großen Einfluss auf sein Denken und Fühlen in der Gegenwart hat. Sara ist es letzten Endes, die Tsukuru davon überzeugt, dass er sich dem Schatten der Vergangenheit stellen muss und nach dem Grund der damaligen Geschehnisse forschen muss, wenn er nicht länger mit der Bürde der vielen ungeklärten Fragen leben will.

Eigene Meinung: Wie immer fällt es mir schwer, nach einer Lektüre von Murakami eindeutig meine Meinung wider zu geben und eine einheitliche Aussage über das Buch zu machen. Wie so oft bei Büchern von Murakami empfinde ich das Buch als eine Art Puzzle. Passagen und Sinnbilder, die sich mir gut erschließen mischen sich mit Abschnitten, die mich etwas ratlos zurück lassen und deren Sinn, bzw. Versinnbildlichung ich nicht, oder nicht vollständig verstanden habe.

Zunächst einmal: für mich ist das Buch ein typischer Murakami. Zwischen den Zeilen entsteht sehr schnell die für Murakamis Bücher typische Stimmung. Die Art und Weise, wie die unterschiedlichen Charaktere sowie ihre Beziehungen untereinander beschrieben werden, Murakamis eigene Art, Alltagsroutine zu schildern, und sie den Takt seines Buches bestimmen zu lassen (ohne jemals langweilig zu sein!), die mystische Stimmung, die sich durch eine immer wieder angedeutete, aber hier nicht so eindeutig existierende Parallelwelt (habe ich in einer anderen Realität etwas Schlimmes getan?) und viele andere typische Bestandteile aus Murakamis Erzählungen haben mich auch diesmal sofort gefangen genommen und mich in die typische "Murakami-Stimmung" versetzt.

Das zentrale Thema des Buches ist die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit – als Bestandteil einer Gruppe oder als Individuum, der Unterschied zwischen Außenwirkung und Innenleben, Außenwirkung und Selbstwahrnehmung. Während seiner engen Freundschaft zu seinen vier Freunden hat sich Tsukuru immer als Außenseiter gefühlt, fühlte sich farblos im Kreis seiner Freunde, die in seinen Augen so viel interessanter und farbenfroher waren. Dies zeigt sich schon an ihren Namen: während alle seine Freunde eine Farbe in ihrem Nachnamen tragen, ist dies bei Tsukuru nicht der Fall. Schon damals und in seinem ganzen späteren Leben empfindet er sich selbst als grau und uninteressant, unfähig, einem andern Menschen etwas zu bieten und diesen dadurch an ihn zu binden. Während er selbst sich allerdings innerlich leer fühlte, war er in den Augen seiner Freunde wohl der stabilste und belastbarste.

Erst im Laufe des Buches gelingt es Tsukuru, sich aus dieser Gedankenwelt zu befreien und sich vom "farblosen" Tsukuru Tazaki, der sich früher ausschließlich als Bestandteil einer Gruppe definierte und beinahe starb, als er aus dieser verstoßen wurde, zu einem Individuum mit eigener Wertigkeit zu entwickeln. Die Überwindung und die Unsicherheiten, die an diesen Prozess gekoppelt sind, kann man als Leser sehr gut nachempfinden. Sehr gut gefallen hat mir, wie Tsukurus eigener Name im Verlauf der Geschichte ebenfalls eine Bedeutung bekommt, die, wie schon gesagt, keine Farbe ist, sondern etwas, das viel mehr zu ihm passt und ihn viel mehr ausmacht. In meinen Augen ist es auch erst Tsukurus Entwicklung zu einem Individuum, die es ihm schließlich ermöglicht, zu verstehen, was damals in seiner Jugend geschehen ist und was möglicherweise der Grund dafür war. Ein weiteres zentrales Thema ist, wie in so vielen von Murakamis Büchern, dass der Einsamkeit, bzw. der Unterschied zwischen Allein- und Einsam-Sein.

Während diese zentralen Themen für mich in vielen Passagen zwar zwischen den Zeilen, aber dennoch deutlich durchklingen, gibt es immer wieder auch Passagen, deren (vollständige) Bedeutung ich bis zum Ende des Buches nicht wirklich einordnen kann. Während ich das bei anderen Autoren immer als sehr störend und negativ empfinde, kann ich diesen Abschnitten bei Murakami (zumeist) dennoch etwas abgewinnen, da es oftmals vor allem diejenigen Abschnitte sind, die in besonders bildreicher Sprache, gewürzt mit wunderbaren Vergleichen und Gleichnissen sind, so dass ich auch diese Abschnitte dennoch genießen kann – so war es auch diesmal in der Geschichte um Tsukuru Takari.

Wie immer habe ich mich bei Lesen von Murakamis Büchern wie in einem farbenfrohen Irrgarten mit bunten Bildern, einer geheimnisvollen Musik und einer mystischen Grundstimmung gefühlt, in dem es mir gelungen ist, manche der kunstvoll gemalten Bilder so lange zu betrachten, dass ich meine persönliche Bedeutung darin finden kann, während andere zwar wunderschön sind, sich mir aber nicht erschließen. Die typische und vertraute Murakami-Grundstimmung ist dabei so etwas wie der rote Faden, der mich trotz der oftmal verwirrenden Wegkreuzungen sicher durch den Irrgarten geleitet hat.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch der unfassbar tolle Einband. Die vier Farben, die die Flügel eines Schmetterlings bilden, getragen von einem grauen Schmetterlingskörper, machen das Buch zu einem echten Hingucker. Das Design passt wunderbar zur Geschichte und hätte meiner Meinung nach besser nicht gewählt werden können.