Rezension

»Josie oder wie sie die Welt sieht«

Bis an die Grenze - Dave Eggers

Bis an die Grenze
von Dave Eggers

Bewertet mit 4 Sternen

In einer Kurzfassung könnte man Dave Eggers’ Roman Bis an die Grenze so zusammenfassen: »Frau flieht mit ihren beiden Kindern – wovor auch immer – nach Alaska, fährt dort mal zielgerichtet, mal ziellos mit dem Wohnmobil umher, lernt ein paar Leute kennen, beobachtet, wie ihre Kinder sich entwickeln, und gewinnt Erkenntnisse.« Das klingt ein bisschen dürftig – ist es aber nicht, denn Bis an die Grenze ist zwar ein literarisches Roadmovie, dessen Handlung der Fahrt mit dem Wohnmobil entspricht, aber das ist nur eine Ebene. Die Reise von Josie, Zahnärztin ohne Job und Praxis, alleinerziehend, mit ihren beiden Kindern Paul (8 Jahre) und Ana (5), wird aus der Sicht Josies erzählt, und in dem, was erzählt wird, erfahren Leser und Leserinnen, wie Josie das Geschehen und die Menschen erlebt – was sie in ihrer Seele erlebt. Zudem entwickeln sich aus der Handlung in der erzählten Gegenwart des Romans immer wieder Rückblicke in die Vergangenheit: zu ihren Eltern, einer Frau, bei der sie zeitweise lebt; zu Carl, ihrem früheren Lebensgefährten und Vater ihrer Kinder; den Menschen ihres Wohnorts, den sie verlassen hat; einem jungen Mann, dem gegenüber sie sich schuldig fühlt; zu der Frau, wegen der sie ihre Praxis aufgibt ...

Leserinnen und Leser lernen die Motive für Josies Flucht kennen, die äußeren Gründe und ihre inneren Dämonen. Josie glaubt einmal, an einem Ort, wo sie gerade sind, bleiben zu können, dann wieder will sie nichts wie weg. Prägend ist ihr Gefühl, dass sie stets eigentlich irgendwoanders sein sollte als da, wo sie ist. Sie liebt ihre Kinder: den ernsten Paul und die jüngere Ana – stets bereit, etwas kaputtzumachen und sich zu verletzen –, für die sich Paul, vor allem zu Anfang der Geschichte, mehr verantwortlich fühlt als Josie selbst. In einem Kapitel gibt es so etwas wie die Gestaltwerdung des Chaos, das in ihr ist, und sie erlebt ihre und ihrer Kinder Gegenwart als stimmig. Schließlich müssen sie real vor Naturgewalten fliehen und Verlust von Materiellem fällt mit dem Erleben von Befreiung zusammen.

Ich mag diese Figur mit ihrem inneren Chaos und ihrer inneren Zerrissenheit und habe das Buch sehr gerne gelesen. Solche Figuren zeigen auch, dass nicht alles so sein muss, wie es üblich ist – dass es Abgründe gibt, unter dem scheinbar problemlosen Funktionieren, und dass die erlebte Realität wanken und sich ändern kann – dem Erleben entsprechend.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 18. Juli 2017 um 23:57

Die inneren Dämonen und das Gestaltwerden des Chaos (daran haben sich besonders viele Leserinnen gestossen, obwohl ich es ihnen erklärt habe!) - gefallen mir sehr gut. Kurz, aber alles auf den Punkt!

Steve Kaminski kommentierte am 19. Juli 2017 um 08:02

Danke, Dein Kommentar freut mich!...

yvy kommentierte am 19. Juli 2017 um 05:54

Sehr gut auf den Punkt gebracht, da schließe ich mich Wanda an. Eine Story, die etwas im Leser anrührt und so noch nachhallt.

Steve Kaminski kommentierte am 19. Juli 2017 um 08:04

... und Deiner ebenso! Viele Grüße!

 

LySch kommentierte am 26. Juli 2017 um 09:44

Auch eine sehr schöne Rezi! :) Ich merke, hier bin ich auf Gleichgesinnte gestoßen ;) Viele können mit Josie ja absolut nichts anfangen...

Emswashed nuschelte am 07. Januar 2018 um 10:03

Bisher konnte mich Eggers wirklich nicht überzeugen, sollte er hier eine Ausnahme gemacht haben?

Steve Kaminski kommentierte am 07. Januar 2018 um 11:31

Ich kenne nur dieses eine Buch von ihm - habe also keinen Vergleich. Dieses jedenfalls fand ich stark.