Rezension

Kampf um Bildung und Frauenrechte Anfang des 20. Jahrhunderts

Unter den Linden 6 - Ann-Sophie Kaiser

Unter den Linden 6
von Ann-Sophie Kaiser

Bewertet mit 4 Sternen

„Unter den Linden 6“ ist ein Roman, dessen Handlung in Berlin im Jahr 1907 spielt. Lise Meitner ist Physikerin und kommt mit dem Ziel in die Stadt, ihre wissenschaftliche Forschung bei Max Planck fortzusetzen. Schnell muss sie feststellen, dass es Frauen in Preußen nicht möglich ist, sich zu immatrikulieren. Auch Anni ist neu in Berlin, allerdings unfreiwillig, um eine Stelle als Dienstmädchen anzutreten. Hedwig hingegen möchte studieren und ist Teil einer Gruppe von Frauen, die für mehr Rechte und Mitbestimmung von Frauen kämpft. Die drei sehr unterschiedlichen Frauen treffen sich zufällig und werden Freundinnen. Sie verfolgen ihre Ziele und müssen immer wieder feststellen, welche Hürden es für Frauen in Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts gibt.

Zwischendurch hatte ich etwas Sorge, dass der Roman sehr in Richtung Liebesroman „kippen“ könnte und war kurzzeitig ein bisschen skeptisch. Dies ist, meiner Meinung nach glücklicherweise, nicht passiert. Natürlich geht es auch um Gefühle, Liebe und Männer, aber eben nicht ausschließlich und es kommt zu keiner Romantisierung. Stattdessen werden Sinnfragen gestellt und es wird die Ungeduld der Frauen, die täglichen Ungerechtigkeiten und mangelnde Anerkennung für von Frauen Geleistetem beschrieben. Besonders gut konnte ich die Verzweiflung und auch Wut von Lise nachvollziehen, die große Leistungen für den wissenschaftlichen Fortschritt erbringt und trotzdem nicht annähernd ausreichend gewürdigt wird.

Die drei Protagonistinnen sind mehrdimensional und sympathisch beschrieben. Der Kampf gegen Widerstände und der damit verbundene Mut wechseln sich mit Passagen ab, in denen die Hauptcharaktere keine Kraft mehr haben und fast aufgeben wollen. Die Entwicklung der Charaktere ist detailliert beschrieben und wirkt realistisch und nicht romantisch oder gar fantastisch. Auch die Freundschaft zwischen den Dreien wirkt nicht unrealistisch, obwohl sie aus so unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Der Schreibstil lässt sich gut lesen und ich bin gerne dabeigeblieben.

Ich habe auf den etwa 450 Seiten sehr viel gelernt, in erster Linie über Berlin bzw. Preußen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Aber auch im Bereich Physik und der Entwicklung der wissenschaftlichen Gebiete habe ich dazugelernt. Wirklich lesenswert und lehrreich sind die Anmerkungen der Autorin am Ende des Romans.

Insgesamt hat mich „Unter den Linden 6“ positiv überrascht und bis auf wenige kurze Passagen sehr überzeugt.