Rezension

Kann man lesen, muss man aber nicht

Irre! - Wir behandeln die Falschen - Manfred Lütz

Irre! - Wir behandeln die Falschen
von Manfred Lütz

Bewertet mit 3.5 Sternen

Der Psychiater Manfred Lütz verfügt über jahrzehntelanger Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Und möchte mit diesem Buch mit den Vorurteilen der Normalen gegenüber "außergewöhnlichen" Menschen aufklären.

Herr Lütz teilt sein Buch in 3 Abschnitte ein. Grob gesagt, geht es um die Definition von Wahnsinn vs. Normalität, den Sinn von Psychiatrie (Mediakamente) vs. Therapie (oftmals Gespräch) und zum Schluss um verschiedene Auffälligkeiten und wie diese behandelt werden können.

Die Botschaft lautet: Niemand ist verrückt! Für alles gibt es eine Lösung! Jeder ist oder kann normal sein! Die Gesellschaft der grauen Mäuse ist das Problem.

Den theoretischen Teil fand ich enttäuschend. Es wird öfter erwähnt, dass ein Metzger das Buch gegengelesen hat, aber was soll das aussagen? Der erste Teil lässt sich nicht gut und vor allem nicht immer verständlich lesen. Was ausgesagt wird, hat wenig Inhalt. Wer Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" gelesen hat, wird hier irgendwie mehr erwarten. Etwas über die Geschichte der Psychiatrie oder über die Geschichte der Behandlungsmethoden, aber dazu kommt höchstens mal ein Satz, mit dem Laien nichts anfangen werden können, da sie keine Verknüpfungen zu Vorkenntnissen herstellen können. Und so wird der Laie, der hier einen ersten groben Überblick über die Seelenkunde erhalten soll, erst recht im Stich gelassen. Die einfache Botschaft: "Die Gesellschaft macht die Irren" kommt so auf 80 Seiten nur schwer rüber, wenn man das Lesen von komplexeren Sachbüchern mit wissenschaftlichen Inhalten und ihre Analyse nicht gewohnt ist.

Im dritten Teil folgt die "Definition" verschiedener Auffälligkeiten mit entsprechenden vereinfachten Fallbeispielen, die so oder so ähnlich auftreten können. Diese werden oft humorvoll und liebevoll dargestellt. Dieser Teil lässt sich nahezu flüssig lesen. Am Ende kann man jedoch noch immer nicht unterscheiden, wo z.B. der Unterschied zwischen einer bipolaren Störung, Schizophrenie und einer multiplen Persönlichkeit besteht. Das hätte alles ein bisschen einfacher, anschaulicher und sortierter geschrieben werden können. Am Ende gibt das Buch nicht sehr viel Mehrwert mit auf den Weg. Es ist eine Art die "Normalen" für die Thematik zu sensibilisieren und das nächste Mal vielleicht noch einmal genauer hinzuschauen, wenn der Nachbar von oben Selbstgespräche führt oder ohen Schuhe auf der Straße herumläuft, bevor man ein Urteil über das Irre-Sein, das es ja gar nicht gibt, fällt.

Wer dieses Buch lesen möchte, ist sicherlich besser mit der Neuauflage von 2020, "Neue Irre", bedient.

Wer erprobter im Lesen von "wissenschaftlichen" Essays ist, liest lieber gleich Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft".