Rezension

Karin Slaughter zählt zu den talentiertesten und stärksten Spannungsautoren der Welt.

Ein Teil von ihr - Karin Slaughter

Ein Teil von ihr
von Karin Slaughter

Bewertet mit 5 Sternen

Todbringende Odysee für Mutter und Tochter. Andrea lebt bei ihrer Mutter. Wie sie es sieht, ist sie "Ein Teil von ihr". Bei einem Amoklauf in einem Café lernt sie die Mutter von einer neuen Seite kennen. Was wäre, wenn Andrea nicht diese furchtbare Erfahrung gemacht hätte? Wäre sie weiter die introvertierte, eher antriebslose junge Frau geblieben, die mit 31 Jahren noch am Rockzipfel der Mutter hing? Das Schicksal und die Autorin von "Ein Teil von ihr" wollten es anders. Sie lässt ihre Heldin in dem neuen Thriller just an deren 31. Geburtstag in einen tödlichen Alptraum schlittern. Karin Slaughters Story ist knallhart und ihr gesellschaftkritischer Blick gnadenlos. Man kennt es von der Autorin, dass sie genau hinter die Kulissen des Establishments und die Fassaden der sogenannten feinen Gesellschaft schaut, in denen ebenso wie in anderen Teilen der Bevölkerung das Böse einen breiten Raum einnimmt. Andrea, genannt Andy, ist Teil dieser Gesellschaft, in der sie einfach keinen richtigen Platz findet. In New York gestrandet und nun wieder in der heimischen Umgebung von Belle Isle in Georgia, fühlt sie sich unwohl. Sie ist deillusioniert, da ihr gar nichts gelingen will - im Gegensatz zu ihrer erfolgreichen Mutter Laura. Bewundernd schaut sie zur der anerkannten Logopädin auf, die ihr gegenüber stets liebe - und verständnisvoll ist. Bis zu ihrem Geburtstag. Denn da geraten Mutter und Tochter in einem Café in die Schusslinie eines durchgedrehten Mannes. Laura erweist sich als nahkampferprobt und todesmutig, ja kaltblütig: Sie tötet den Amokläufer mit seinem eigenen Messer, während Andy paralysiert ist und hilflos zuschaut. Wieder und wieder sieht Andrea Oliver das Gesicht ihrer Mutter Laura vor sich: gelöst, gutmütig, beherrscht – während sie einem Menschen das Leben nimmt. Vierundzwanzig Stunden später liegt Laura im Krankenhaus, angeschossen von einem Mann, der ihr dreißig Jahre lang auf den Fersen war. Auf der Suche nach Gründen für die Tat, lernt Andy, je weiter sich ihr die wahre Identität dieser Frau enthüllt, desto mehr entpuppt sich ihr Leben als eine Lüge. Wer ist ihre Mutter wirklich? Verzweifelt folgt Andrea den Spuren in die Vergangenheit... Denn sonst kann es für keine von ihnen eine Zukunft geben. Doch dann kehrt das Grauen mit voller Wucht zurück. Für beide wird der schreckliche Vorfall zu einem Schlüsselerlebnis. Laura muss befürchten, dass ihre Tat nicht als Notwehr, sondern als Mord gewertet wird und schickt Andy deshalb fort. Ihre Tochter soll ihr Leben in die Hand nehmen und endlich auf eigenen Beinen stehen. Völlig fassungslos steht Andy nun der neuen Situation gegenüber. Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Es ist der Beginn einer todbringenden Odysee, deren Richtung aus der Ferne von Laura vorgegeben wird, deren Verlauf aber aus der Vergangenheit gesteuert zu werden scheint. Das ist die zweite Erzählebene, in deren Mittelpunkt die junge Jane steht, Tochter eines superreichen, skrupellosen Unternehmers, der sein musikbegabtes Kind quält. Verantwortungslose Eltern, schwache Geschwister und ein dämonischer Freund stürzen das Mädchen fast in den Abgrund. Die Autorin wechselt rhythmisch die Perspektiven zwischen den Jahren 1986 und 2018. Im gleichen Maße, wie sie die zeitliche Lücke füllt, entdecken Andy und Jane ihre Persönlichkeit. Erwartungsgemäß nähern sich beide Stränge immer weiter an, bis sie mit einem Paukenschlag zusammengeführt werden. Die Autorin hat ihre eigene Heimat zum Hauptschauplatz gemacht. Doch neben dem heißen Süden Georgias führt sie ihre Figuren erstmals auch quer durch die Staaten sowie über den Atlantik nach Europa. Das Milieu, das Slaughter für ihren Thriller gewählt hat, ist in der Oberschicht angesiedelt. Darin thematisiert sie die Profitgier von Magnaten, die über Leichen gehen, sowie einmal mehr Gewalt gegen Frauen. Hinzu kommt ein von ihr bislang kaum geackertes Gebiet: der Linksterrorismus. Wie immer hat Karin Slaughter keine Scheu, Verbrechen in all ihrer Brutalität und Grausamkeit genau zu schildern. Man merkt ihr gefällt es, ihre Leser zu schockieren. Daneben aber beweist sie ebenso viel Gespür für die Zerrissenheit, für Sehnsüchte und Ängste, für starke Gefühle und damit verbundene innerliche Eruptionen, kurz: für die Komplexität ihrer Charaktere. Das wiederum führt zum Titel des Buches. "Ein Teil von ihr" bezieht sich natürlich auf die Verbundenheit von Mutter und Tochter, die sich beide neu definieren müssen. Ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Es ist Karin Slaughter genial gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen. Die außergewöhnliche Charakterschärfe der Figuren und der Tiefgang der Geschichte, die sich so beklemmend lebendig liest, erschüttert bis ins Mark durch psychologische Kniffe vom Feinsten, während die Spannung dafür sorgt dass man regelrecht atemlos weiterliest. Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter den Leser von der ersten bis zur letzten Seite.