Rezension

Keine klare Linie

Im Blick - Marie Luise Lehner

Im Blick
von Marie Luise Lehner

Bewertet mit 2.5 Sternen

Du sitzt vor mir. Ich lege mein glattes Gesicht an und gebe nichts preis, was mich menschlich macht. So lerne ich dich kennen.

Dieser erste Satz aus Marie Luise Lehners neuem Buch „Im Blick“ hat mich fasziniert. Die Frage der Identität, die hier mitschwingt, die Frage nach dem wer man ist, sein will und wie man von anderen definiert wird, all das hätte Stoff für einen spannenden Roman bieten können. Hätte. Denn das Buch entwickelt keine klare Linie, geschweige denn eine klare Geschichte.

Die Ich-Erzählerin des Buches lebt in einer Beziehung mit einem ominösen „Du“, einer Frau, ist allerdings deutlich öfter zusammen mit ihrer alten Schulfreundin Anja. Zudem wird die Beziehung der Erzählerin noch bedroht durch die „Wölfin“, die Ex ihrer Freundin. Erzählt wird von diesem Beziehungsreigen fragmentarisch, wobei die Geliebte immer als „Du“ angesprochen wird. Eine Entwicklung in diesen Beziehungen ist nicht erkennbar, alles dümpelt so vor sich hin. Mal sagt die Protagonistin, es sei schwer das „Du“ zu lieben, dann wiederum stellt sie fest, dass sie zu einem „Wir“ werden. An anderer Stelle wiederum bemerkt sie, dass sie eigentlich alle liebt: ihre Geliebte, ihre Freundin Anja und irgendwie auch die „Wölfin“. Love is all around.

Dazwischen sind immer wieder Gespräche eingeschoben, die Aspekte der Genderdebatte aufgreifen. Kann man einen Mann, der einer Frau an den Po fasst vergleichen mit einer Frau, die einem Mann an den Po fasst? Gibt es einen männlichen Blick (male gaze) auf die Frau im Kino? Muss man sich als schwul outen? Die Diskussion bleibt jedoch meist im Oberflächlichen, es wird mehr angedeutet, angesprochen als diskutiert. Von einem Buch wie Thomas Meineckes „Tomboy„, das einem die feministischen Theorien nur so um die Ohren haut, ist „Im Blick“ meilenweit entfernt.

Auch in Blick auf die Beziehung der Protagonistin wird vieles nur angedeutet, wenig beleuchtet. So wird Max Frischs Bildnisproblematik aufgegriffen: „Du fragst ich, ob ich eine Projektionsfläche brauche“ – und endet mit der Frage der Ich-Erzählerin, wie ihre Geliebte rauchend Fahrrad fahren kann. Selbst wenn – ganz im Sinne der Postmoderne – auf einen Bildband von Rhys Ernst und Zackary Drucker verwiesen wird, fragt man sich als Leser nur: warum? Will die Ich-Erzählerin auch eine neue Form von Identität, Gender, Sexualität und Queerness? Oder will sie einfach nur ab und zu darüber reden?

Die Ernsthaftigkeit, die das Buch streckenweise hat, wenn es um Identität geht, um Gewalt gegen Frauen und um die Frage, wo Grenzüberschreitungen beginnen, verliert sich leider in einem Wust an Angesprochenem und einer unerquicklichen Handlung.