Rezension

Keine Strandlektüre

Freiheit für alle -

Freiheit für alle
von Richard David Precht

Bewertet mit 5 Sternen

Die kleine Bibel für 80 Millionen

Prechts dicker Schinken 'Freiheit für alle', wir sind ein Jahrgang, lag unterm Weihnachtsbaum. Ich hab ihn sehr gern gelesen. Ein Thema, das uns alle betrifft, 80 Millionen, und aktueller denn je. Das Buch ist verständlich geschrieben (einen gewissen Bildungshintergrund vorausgesetzt, der Fachausdrücke wegen). Mir persönlich gefällt die Sprachmischung aus Fachsprache, einem metaphorisch-literarischem Stil 'Der Fortschritt durch Technik, der im Silicon Valley gefeiert wird, strahlt nicht nur hell, er legt zugleich einen gewaltigen Schatten über das Land' (38) oder

Der sozialdemokratische Arbeitsbegriff (…) ist ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, ein lebendes Fossil, das sich ins 21. Jahrhundert gerettet hat, um feststellen zu müssen, das es hier keine geeigneten Lebensbedingungen mehr hat (193).

Schön die immer wieder netten Wortschöpfungen 'zerbröselnde Welt' (114), 'fantasieverlassener Journalist' (409), 'eine Diskussion im Verhinderungsmodus führen' (455). Precht hat sein Opus nicht nicht einfach so herunter geschrieben, sondern sich intensivst darauf vorbereitet, jahrelang profund recherchiert:

Zehn Jahre intensiven Studiums auf ungezählten Kongressen, in ebenso ungezählten Unternehmen, auf Podien und in Foren, dazu unvergessene Gespräche mit vielen interessanten Menschen sowie Jahre der Lektüre ökonomischer Studien und vieler weitsichtiger und weniger weitsichtiger Aufsätze und Bücher haben dieses Buch möglich gemacht(23).

Das Thema wird aus allen Himmelsrichtungen beleuchtet, jedes, ob stichhaltig oder nicht,bArgument und Gegenargument wird zugelassen, aufbereitet und dargestellt. Arbeit wird definiert und geschichtlich und interkulturell dargestellt: 'Wer Arbeit nur ökonomisch betrachtet, hat sie eigentlich gar nicht verstanden' (166). Das macht das Buch so authentisch und tiefschürfend, auch wenn sich niemand auch nur einen Bruchteil der Namen von Wissenschaftlern, Politikern, Philosophen und anderer Fachleute wird merken können, die Precht auf 500 Seiten so anführt. Dass das BGE (bedingungslose Grundeinkommen) eine solch' lange Historie hat, war mir unbekannt. Es ist beileibe keine so dringend notwendige Idee der Neuzeit. Ein Drittel aller Jobs würde langfristig in Deutschland wegfallen, interessant sind auch die Studien in den USA, in denen untersucht wurde, welche Jobs durch die Digitalisierung und KI automatisiert und somit Personal eliminiert werden könnte. In Deutschland ist der Blick ´empirisch verengt', traditionell ('der fatale Systemzwang eines überholten Konzepts', 320) , zu sehr der Vergangenheit (Erwerbsgesellschaft) verhaftet und es fehlt in der obersten Riege an Willen zur Veränderung, Mut und Tatendrang. 'Doch warum wird sie bislang nicht ernsthaft angegangen? [die immense Gestaltungsfrage unserer Gesellschaft, die vor all unserer Augen liegt], fragt Precht (112). Ja, warum, es fehlt an Prechts in Politik, ('Wie weltfremd darf man eigentlich sein, um in Wirtschaftsinstituten als Arbeitsmarktexperte beschäftigt zu sein?', 320, fragt Precht), in einer Politik, die noch im 'Dornröschen-Schlaf' liegt (293)und in der Wirtschaft. Es fehlt an charismatischen Persönlichkeiten und Fachleuten, die bereit genug sind, der Wahrheit ins Auge zu blicken ['German Angst] und sich die Ärmel hochzukrempeln. Das Arbeit nicht gerecht und gleichermaßen bezahlt wird, wissen wir alle. Eine Anne Will, die nun nach 16 Jahren mit ihrem TV-Talk Ende 2022 aufhört, verdient laut Aussage des ZDF 2.400 Euro pro Minute (!)Das macht 144.000 Euro pro Stunde, Leute wie Jauch verdienen noch mehr, aber es steht in keinem Verhältnis zu einem Mindestlohn von 12 Euro/Std. und zu der Unterbezahlung in sämtlichen Bereich in einer der reichsten Industrienationen Deutschlands, geschweige denn zu einem 'Bürgergeld'. Auch das Jobcenter ist ein Fossil, das dringend abgeschafft gehört und nur Kosten verursacht. Im Jahr 2022 wurden 32 Millionen Euro dort ausgegeben, um 72 Millionen angeblich unberechtigte Zahlungen zurückzufordern, von denen ein Großteil erlassen wurde.

Ich persönlich bin vom BGE überzeugt. War es auch schon vor Precht. Die Idee einer Microsteuer, der Versteuerung von Finanztransaktionen ist genial. Das einzige Problem aus meiner Sicht ist und bleibt ein aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftskräfte unterschiedlich hohes BGE in einzelnen Ländern, damit das Risiko einer überdimensional hohen Umsiedelungswelle nach Deutschland und eine viel zu schnelle Einbürgerung/Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft an Staatsbürger aus anderen Nationen. Aus meiner Sicht kaum vorstellbar, dass Deutschland aufgrund seiner 'German Angst' und seiner Vorgeschichte, hier zurückrudert. Das wäre sehr traurig.

Bei der Lektüre von 'Freiheit für alle' braucht es eine gewisse Konzentration, es ist keine Standlektüre, sollte aber vielleicht die kleine Bibel aller werden. Die Babyboomer haben gelebt, nahezu sorgenfreie 70iger-90iger Jahre gehabt, dennoch ist uns das alles nicht egal. Im Gegenteil! Es geht um unsere Kinder und Enkel, den Erhalt der Gesellschaft ('das feste Band zwischen Arbeit und Einkommen muss getrennt werden', 254 'Ich arbeite für Geld, also bin ich', kann kein Credo unserer Zukunft mehr sein – Arbeitslosigkeit ist der Naturzustand des Menschen (258)), unsere Zukunft, mit der wir so verantwortungslos spielen. Es ist ein Buch für alle Betroffenen, für historisch, gesellschaftlich, ökonomisch und philosophisch Interessierte und das ist das Schöne auch für Liebhaber des poetisch- metaphorischen Wortes, der Redekunst.