Rezension

Kieler Kommissar angelt 1896 große Fische im Hamburger Hafen - Großartig!

Tod in der Speicherstadt - Anja Marschall

Tod in der Speicherstadt
von Anja Marschall

Bewertet mit 5 Sternen

Ein spannender Kriminalfall vor der Kulisse des historischen Hamburg Ende des 19. Jh., exzellent recherchiert und toll geschrieben!

Das Buch: 

Alles begann damit, dass ich beinahe zufällig in Anja Marschalls Premierenlesung am 25.10.2019 in der Speicherstadt saß und mich auf der Stelle in die Geschichte verliebte. Die Autorin hatte es geschafft mich mit den Ausschnitten ihres Buches in das Hamburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu entführen und es blieb mir gar nichts anderes übrig als den ganzen Roman lesen zu wollen. Wann immer ich beim Lesen an Stellen ankam, die sie vorgelesen hatte, hörte ich wieder ihr zu – wie sie begeistert von Hauke und Sophie, von Zollanwärter Detlefsen und vom Kaffeehändler Bellingrodt erzählte, von ihren Recherchen und vor allem über Kaffee! Kaffee ist eine Wissenschaft, glaube ich, und einen kleinen Teil dieser Wissenschaft verarbeitet die Autorin auch zwischen diesen Buchdeckeln. Eines jedenfalls ist sicher: Guter Kaffee braucht keine Milch!

Das Cover des Buches passt perfekt zur Geschichte. Es zeigt einen Teil der alten Speicher, so wie man sie heute auch noch bewundern kann. Es reiht sich so gar nicht in die Riege der modernen historischen Cover oder jener der Kriminalromane ein. Es fällt aus der Reihe und das gefällt mir sehr, insbesondere da ich Hamburg-Romane sehr gern lese. Die Haptik des Buches ist weich mit erhabenen Buchstaben, sodass man das Buch einfach gern in der Hand hält. 

Ein besonderes Schmankerl liefert die Autorin mit ihren Kapitelanfängen. Jedes Kapitel ist mit einem Originalauszug aus Hamburger Zeitungen von 1896 überschrieben. Hin und wieder sind diese Auszüge zum Schmunzeln und manchmal muss man sich schon anstrengen um entweder die alte Rechtschreibung oder auch die Abkürzungen einer Anzeige zu entziffern. Ich kann sagen: Ich habe es geschafft! 

Worum geht’s?

Hauke Sötje, Kommissar der Kieler Polizei soll in Hamburg in einem Mordfall im Zusammenhang mit einer Schmugglerbande ermitteln. Hierbei stößt er zunächst auf einigen Widerstand – sowohl durch Polizeirat Roscher als auch durch Oberzollinspektor Jensen, der behauptet dass in seiner Speicherstadt nicht geschmuggelt wird. Jensen stellt ihm einen „Aufpasser“ zur Seite – Zollanwärter Detlefsen – mit dem im Schlepptau Hauke nun seine Ermittlungen führen muss. 

Parallel dazu – für sich allein, aber dennoch im gleichen Fall – ermittelt Sophie, Haukes Verlobte, in einem weiteren Mordfall, der zunächst gar nicht zur eigentlichen Ermittlung passen will. 

Eine Verbrecherjagd durch die Hamburger Speicherstadt beginnt und mit jedem Puzzleteil, das Hauke und Sophie finden, zieht sich die Schlinge um den Hals des Täters enger zusammen. 

Die Charaktere: 

Hauke Sötje – ehemaliger Kapitän – und seine Verlobte Sophie sind eindeutig die Sympathieträger in diesem Roman. Mit Ermittlungsmethoden, die in der heutigen Zeit sicherlich als angestaubt gelten können, suchen sie Teil für Teil zusammen. Gleichwohl haben sie sich jedoch an Konventionen zu halten, die die Ermittlungen nicht eben erleichtern. So muss sich Hauke von Polizeirat Roscher immer wieder anhören, dass er nicht einfach die Großen der Wirtschaft, wie z.B. Wilhelm Bellingrodt und seinen Sohn, verhören oder gar vorladen kann, da dieser einen mächtigen Einfluss in der Stadt hat und Roscher das Leben schwer machen kann.

Darüber hinaus ist Hauke als „der Kommissar aus Kiel“ zunächst kein gern gesehener Gast – insbesondere als er Oberzollinspektor Jensen mit dem Kaffeeschmuggel konfrontiert. Man muss ihn einfach mögen, so wie er sich dennoch immer wieder über eben diese Konventionen hinweg setzt und zielstrebig seine Ermittlungen durchführt. Hinzu kommt, dass Hauke mutig ist und sich nicht so schnell einschüchtern lässt. 

Sophie passt sich nicht immer an – im Gegenteil, sie hat ein Faible für Ermittlungen, was in dieser Zeit völlig undamenhaft ist. Sie rät ihrem Arbeitgeber sogar, seine Tochter in die Geschicke der Buchhalterei einzuführen und ihr die Firma zu zeigen, damit sie lernt mit Geld umzugehen. Ein sehr gewagter Rat! Diese Eigenschaft macht sie mir so überaus sympathisch. Auch dass sie sich darüber Gedanken macht, dass Frauen generell nicht gerecht behandelt werden. Im Zusammenhang damit, dass dies die Zeit war, in der die Hafenarbeiter streiken und auch die Frauenrechte gestärkt werden sollten, ein nachvollziehbarer Charakterzug, der einmal mehr zeigt, dass Sophie eine starke Frau ist. Manchmal jedoch bringt sie sich, vielleicht durch eine gewisse Unbedachtheit, in Schwierigkeiten, aus denen ihr Hauke aber jedes Mal heraus hilft – und damit ihr Held und der der Leserschaft sein darf.  

Neben vielen anderen sympathischen, rüpelhaften oder furchtbar unangenehmen Nebencharakteren, die allesamt so gut beschrieben sind, dass ich sie mir lebhaft vorstellen kann, gibt es auch Zollanwärter Hans Detlefsen. Er ist mit seinen 17 Jahren noch so unbedarft, hat Träume und ist einfach liebenswert. Er vertraut Hauke absolut und will ihm mit allem, was ihm möglich ist, zu Diensten sein. Ihn mochte ich sehr, auch weil er es ist, der dem Leser vieles über die neue, moderne Speicherstadt erzählt. Aus ihm sprach der Stolz auf „seine“ Speicherstadt und das obwohl sein Erbe – nämlich der Laden seines Vaters – dafür weichen musste. 

Historischer Hintergrund:

Der historische Hintergrund für diesen Roman ist exzellent recherchiert. Als Leser fühlt man sich ein bisschen so, als würde man genau in diese Zeit zurück versetzt werden und einen Rundgang durch Hamburg machen. Auch ohne die Stadt zu kennen, ist es möglich sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen und gerochen haben muss. Der Krach im Hafen, die Gerüche aus der Kaffeerösterei oder den Guano-Speichern. 

Schaut man genauer hin, findet man die recherchierte Historie in der modernen Stadt wieder. Die Geschichten, die die Autorin erzählt sind nicht nur liebenswert, sondern auch historisch korrekt. Das gefällt mir ausgesprochen gut, da ich genau dieses Merkmal an historischen Romanen besonders mag. Man lernt etwas, indem man eine spannende Geschichte liest. Bisweilen habe ich sogar im Internet weiter geschaut, wann was gebaut wurde z.B. Es gibt eine Szene, in der schreibt die Autorin „Einen Tunnel gab es ja nicht.“ und bezog sich dabei auf eine Elbquerung. Stimmt, der alte Elbtunnel wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut. Solche kleinen Details sind es, die einen durch die gesamte Geschichte begleiten und diese so glaubwürdig machen. 

In einem Anhang bekommt der Leser zudem einen Überblick über reale Historie und Fiktion. Die großen Ereignisse wie z.B. der Hafenarbeiterstreik werden hier erklärt, Gebäude, die tatsächlich existierten oder noch existieren werden erwähnt und wie sie in der Realität genutzt wurden. Es macht Spaß diesen Anhang zu lesen, der dann auch noch durch ein kleines Hamburger Sprachlexikon abgerundet wird. 

Schreibstil:

Mit ihrem Schreibstil trifft Anja Marschall die Sprache der Zeit – oder jedenfalls so, wie ich sie mir vorstelle. Wer den Hamburger schon mal Platt schnacken hören hat, kann sich sicher vorstellen, was ich meine. Außerdem lässt sie ihre Figuren – z.B. Quartiersleute, Hafenarbeiter usw. – platt schnacken. Das war einfach so, das sprach man in dieser Zeit. Und trotzdem wird auch jemand, der dieses Dialektes nicht mächtig ist, keine Schwierigkeiten haben, die Inhalte der Dialoge zu verstehen. Erstens: es gibt ja besagtes Sprachlexikon und Zweitens: wenn ein wirklich längerer Dialog stattfindet, arbeitet die Autorin den Inhalt des Dialoges geschickt in die nächsten Zeilen ein, sodass sich der Inhalt spätestens daraus ergibt. 

Besonders beeindruckt hat mich, wie Frau Marschall mit Adjektiven, die Situationen oder Menschen beschreiben, Stimmung herauf beschwört oder die Menschen vor dem inneren Auge lebendig werden lässt. Hinzu kommt eine ordentliche Prise Humor!

Zitat S.111: „Schnaufend drehte die Dame sich zurück zum Tisch, beugte sich ein wenig vor und flüsterte ihrer üppig ausgestatteten Freundin, deren Mantel ein Fuchskragen zierte, etwas zu. Das tote Tier über den fleischigen Schultern besagter Freundin starrte aus gläsernen Augen verzweifelt auf den unter vielen Schichten Rüschen verpackten Busen.“ 

Der Roman wird aus 2 Perspektiven erzählt – Haukes und Sophies. Diese beiden Perspektiven liefern immer mehr Puzzleteile, die am Ende schließlich zu einem Ergebnis zusammen geführt werden. Sehr schön fand ich auch, dass es manchmal so war, dass ich mehr wusste, als Hauke oder Sophie, weil die beiden nicht allzu oft dazu kamen, ihre Ermittlungen miteinander zu teilen. Trotzdem hat der Leser bis zum Ende zwar viele Verdachtsmomente den Täter betreffend, aber erst ziemlich spät wird klar, wer es tatsächlich gewesen ist. Die Auflösung erfolgt dann ohne plakativ präsentiert zu werden im Verlauf der Geschichte.  

Auffällig ist immer wieder der Stolz der Hamburger auf ihre (Speicher-)Stadt. Ich liebe es, zumal es heute noch genauso ist. Der Hamburger hat ein ganz besonderes Verhältnis zu seiner Heimat und das macht ihn einfach aus – gestern wie heute. 

Fazit:

Mit diesem Roman ist der Autorin eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt und an ihre Figuren gelungen. Sie hat ihre exzellente Recherche zu einem absolut empfehlenswerten Roman verarbeitet. Für Fans historischer Romane und nicht allzu blutiger Krimis ein absolutes Muss. 5 von 5 Sternen.