Rezension

Kinder, die sich in der Nachkriegszeit allein durchschlagen

Der Schieber - Cay Rademacher

Der Schieber
von Cay Rademacher

Bewertet mit 5 Sternen

Im Sommer 1947 ist im kriegszerstörten Hamburg unter Britischer Militärverwaltung die Bewältigung des Alltags eine tägliche Herausforderung. Ganze Straßenzüge sind zerbombt, viele Menschen leben in Baracken oder Bunkern und Lebensmittel werden noch immer auf Lebensmittelkarten zugeteilt. Einige tausend elternlose Kinder schlagen sich in der Stadt mit Kohlenklau von fahrenden Eisenbahnzügen und Schwarzmarktgeschäften durch. Davon sind (laut Rademachers Nachwort) allein eintausend so genannte Wolfskinder, die ohne Erwachsene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten flüchteten. Der Hafen ist zerbombt, gesunkene Schiffe versperren die Fahrrinnen. Als auf dem Gelände der Werft Blohm und Voss in Steinwerder (die englisches Sperrgebiet ist) ein Jugendlicher erstochen aufgefunden wird, arbeitet der deutsche Oberinspektor Frank Stave von der Hamburger Kripo mit Lieutenant MacDonald von der Britischen Besatzungsarmee zusammen. Die halboffizielle Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Kripo und den "Tommies" illustriert sehr gelungen, wie kompliziert das Zusammenleben von Besatzungsmacht und den Bürgern im besetzten Nord-Deutschland war. Von der Hamburger Polizei wird der Einsatz für Recht und Ordnung erwartet, Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Briten Benzin für den Fuhrpark, die "Peterwagen", bewilligen. Ermittlungen auf dem Werftgelände sind eine heikle Sache, da die Militärregierung gerade die Demontierung der Produktionsanlagen angeordnet hat und die zum großen Teil in der KPD organisierten Werftarbeiter das durch aktiven oder passiven Widerstand verhindern wollen. Ein Fächer von Mordmotiven bietet sich den Ermittlern an. Der Junge, den offenbar noch niemand vermisst, könnte sich als Schmuggler oder Schieber Feinde gemacht haben, er könnte aber auch den Interessengruppen um die Schiffswerft in die Quere gekommen sein. Als seine Angehörigen ausfindig gemacht sind, zeigt sich, dass Adolf in der damaligen Zigarettenwährung sehr wohlhabend war. In welche Schiebereien war der Junge verwickelt?

Frank Stave hatte es während des Nationalsozialismus irgendwie fertiggebracht, seine Stelle zu behalten, obwohl er kein Parteimitglied war. Als Sozialdemokrat fühlte er sich nur im Geheimen. Eine politisch weiße Weste erregt natürlich den Neid seiner Kollegen, an denen er auf der Karriereleiter vorbeiziehen könnte. Stave ermittelt verbissen im Fall des toten Jungen, weil er nur schwer akzeptieren kann, dass um die elternlosen Wolfskinder niemand trauert. MacDonald, sein britischer Partner, handelt weniger altruistisch. Er hat eine Affäre mit Staves Sekretärin, die noch nicht von ihrem ersten Mann geschieden ist, und fürchtet auf einen Posten am entfernten Rand des Empires abgeschoben zu werden, falls er in diesem Fall nicht mit Ergebnissen glänzt. Das binationale Ermittlerteam gerät unter Handlungsdruck als weitere tote Jugendliche gefunden werden.

Neben einem spannenden Kriminalfall und den sorgfältig recherchierten Lebensbedingungen der Nachkriegsjahre hat mich besonders beeindruckt, wie tief der Autor seine Leser in Frank Staves seelische Verfassung blicken lässt. Der Ermittler hat seine Frau bei einem Bombenangriff verloren und kann sich im zweiten Jahr nach Ende des Kriegs nur schwer auf die Liebe zu seiner Freundin Anna einlassen. Auch die Beziehung zu Staves Sohn, den er zuletzt mit 17 Jahren gesehen hat, bevor der Junge sich zur Wehrmacht verpflichtete, ist noch ungeklärt. Rademacher lässt die trockenen Fakten über den Alltag zur Zeit der Hamsterfahrten und Schwarzmarktgeschäfte im Nachkriegsdeutschland erstaunlich lebendig werden. Meine Erwartung an einen historischen Krimi hat das Buch noch übertroffen und ich habe mich neugierig gefragt, wer wohl Rademachers Zeitzeugen für diesen Krimi gewesen sind.