Rezension

Kiosk mit Zapfsäule

Goldene Jahre - Arno Camenisch

Goldene Jahre
von Arno Camenisch

Bewertet mit 4 Sternen

Ist eigentlich süß - aber ein bisschen anstrengen muss man sich schon beim Lesen. Weil Fließtext.

Dieses sehr schmale Romänchen, gerade mal 100 Seiten lang, besteht aus einem einzigen langen Dialog, den die Damen Rosa-Maria und Margrit anläßlich des 51 Jahrestages des Bestehens ihres Kioskes, miteinander führen. 

Von den Damen selbst erfahren wir nicht viel, Rosa Maria ruckelt an ihrer Brille mit Goldrand und Margrit richtet ihre Frisur, wahrscheinlich mit Dreiwettertaft gehalten, jedoch weht ein starker Frühlingswind. 

 Die Damen haben mit ihrem kleinen Geschäft, irgendwo in der Schweiz gelegen, oberhalb des Rheintals, zwischen Chur und Ilanz, allen Unbilden der Zeit getrotzt und ihr Lädchen mit Zapfsäule am Leben erhalten können. Sie haben modernisiert, wenn es notwendig war und am Alten festgehalten, wenn es möglich war. Allmählich setzt zwar der Niedergang ein, weil eine Umgehungsstraße sie der Laufkundschaft beraubt, aber sie lassen sich nicht unterkriegen und werden gleich ihren Zitronenkuchen mampfen. 

 Die Damen lassen mit unverwüstlichem Optimismus Revue passieren, was sie erlebt haben. Großartige Sportereignisse fanden statt und Sportler und Fans haben bei ihnen eingekauft. Prominenz war da. Aber auch die Leute aus dem Ort. Über 50 Jahre hin, nein 51 berichtigen sie sich gegenseitig immer wieder, haben sie die Leuts beobachten und studieren können. Dem Pfarrer haben sie Sexheftle in die Tageszeitung eingehüllt gereicht und Liebespaar sich finden und wieder auseinandergehen sehen, na, und halt alles, was es so gibt an Leben und Leid ging an ihrem Kiosk vorbei. Sie haben sich nicht vom Fleck bewegt und dennoch alles erlebt, was es zu erleben gibt, von den kleinen bis zu den großen, weltbewegenden schönen und bösen Erlebnisssen. 

 Als Leser geht man vergnüglich mit auf die Reise durch die Erinnerungen der alten Damen. Nur schade halt, dass man von ihnen selber kaum was erfährt, so ein paar Andeutungen machen nämlich ganz schön neugierig, sie müssen heiße Feger gewesen sein. Aber obwohl die Damen alles über die Anwohner der hiesigen Ortschaften wissen und einige Geheimnisse der Prominenz von ihnen erzählt bekommen oder erraten haben, lassen sie sich selber nicht in die Karten schauen. 

 Fazit. Recht vergnügliches kleines Büchlein, das zeigt, dass man mit recht Wenigem, gezielt eingesetzt, Großes erreichen kann, was sowohl für den Roman wie auch für das Leben gilt. 

 

Kateogorie: Belletristik
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020
Verlag: Engeler, 2020

Kommentare

lesesafari kommentierte am 14. November 2020 um 19:47

Wenn sie sich selbst nie bewegt haben, sind sie ja (passive) Beobachterinnen geblieben. Ihr eigenes Leben fand dann nur in der Fantasie statt.
Nun gut, klingt so, wie wir es uns vorgestellt haben.

FIRIEL kommentierte am 14. November 2020 um 20:11

Ich fand es klasse. Eine völlig andere Weltsicht. Man könnte ja auch sagen: Ach, die armen Frauen, sind schon über 70 Jahre und müssen noch jeden Tag Waren schleppen und von morgens früh an parat stehen, dabei gibt es wohl kaum noch Verdienst. Aber nein, die beiden sehen immer das Positive und genießen ihr Leben. Davon können die ewig Jammernden etwas lernen.

Da kann ich nur hoffen, dass sie beide noch lange gesund bleiben. Wenn eine von beiden nicht mehr kann, wird dieses Leben wohl schnell zu Ende sein - aber darüber denken sie noch nicht nach, sondern freuen sich über das, was sie haben.

wandagreen kommentierte am 15. November 2020 um 08:32

Sehr richtig, Firi. Es ist ein richtig positives Buch. Und das Passivleben kann ich so nicht sehen. Wie gesagt, sie waren heiße Feger und was sie nach Feierabend trieben, haben sie nicht so richtig verraten.

lesesafari kommentierte am 15. November 2020 um 19:45

dann ist es vllt noch spannender als gedacht. und nur 100 seiten. das geht ja flott.