Rezension

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Kirchberg - oder der Verlust der Worte

Kirchberg - Verena Boos

Kirchberg
von Verena Boos

Bewertet mit 4 Sternen

Hanna, eine Frau des Wortes, hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr sprechen. Erschöpft zieht sie sich in das Haus ihrer Großeltern zurück, in dem sie als uneheliches Kind aufgewachsen ist. Doch nicht nur Hanna kommt in ihr altes Dorf, ihr altes Dorf kommt auch zu ihr. Patrizio, der Freund aus Jugendtagen, und ihre Nachbarin Sabrina suchen ihre Nähe. Wals als selbstgewählte Einsamkeit gedacht war, wird zu einer Erkundungsreise, die eng mit der Geschichte dieses Hauses auf dem Kirchberg verwoben ist. So eignet sich Hanna ihr Leben noch einmal an und vermag schließlich auch zu erkennen, wer ihr Vater ist. Dieses meisterhafte Buch entfaltet ein weites erzählerisches Panorama, das von den Kriegsjahren bis heute und morgen reicht. (Quelle: Klappentext)

Meine Meinung:

Der Roman beginnt mit der Ankunft Johannas (Hanna) in dem kleinen Dorf irgendwo im Schwarzwald, wo sie bei Katharina und Erich, ihren Großeltern, eine liebevolle Kindheit hatte und in dem Haus am Kirchberg aufwuchs. Ihre Mutter Maria schien überfordert und gab das kleine Mädchen zur Adoption frei; die Großeltern adoptierten Hanna daraufhin. Nach dem Abitur studiert Hanna und lebt in Berlin, wo sie sich mit Jessie, ihrer Freundin, eine Wohnung teilt. Sie ist eine Frau des Wortes und möchte ihren Habil fertigstellen, um ein Stipendium in Harvard zu bekommen. Oft unterwegs, hält sie Vorträge und referiert über historische Themen, als sie in New York den Saxophonisten Leo kennenlernt - und sich in ihn verliebt. Die Liaison wird für beide sehr leidenschaftlich, aber auch verzehrend. Hanna fällt es schwerer, geistige Arbeit zu leisten, da ihre Kopfschmerzen immer stärker werden....

Nach einer Operation und einem Schlaganfall ist es ihr nicht mehr - oder sehr schwer - möglich, an ihre Sprach- und Erinnerungsschätze heranzukommen: Verena Boos gelingt es hier überragend, auch emotional, die Psyche einer Frau auszuleuchten, der es die Sprache (durch den Schlag) sprichwörtlich verschlagen hat: "Da kratzt eine Erinnerung von unten am Eis" - als Beispiel: Diese Sätze machen die Ausdrucksstärke dieses Romans aus und drücken auch gleichzeitig die Kraft aus, die Anna innewohnt. Sie erkennt jedoch, dass sie ohne fremde Hilfe nicht auskommen wird, um das Haus winterfest zu machen und nimmt Hilfe von Nachbarn und Freunden an, die man im Romanverlauf kennenlernt: Eine sehr sympathische Figur ist hier Patrizio, der Hanna von Kindesbeinen an kennt und sie liebt; er und Daphne ziehen als temporäre Mitbewohner in Hannas Haus ein; Daphne hat hier einen Werkstattraum und Patrizio beschließt, seine italienische Familiengeschichte in Form eines Comics zu zeichnen und sich dafür eine Auszeit zu nehmen. Ein kleines Mädchen ist für mich auch heldenhaft gewesen, wenn es um die Hilfe für die behinderte Hanna ging: Lisa, die kleine Tochter der Nachbarin Sabrina.

In 10-Jahres-Schritten wird die Zeit seit der Geburt Hannas (1974) und ihr weiteres Leben bis in die Zukunft (2024) gezeichnet, in einer Weise, wie ich sie bisher noch nicht gelesen habe. Wenn es etwas heißt: "Sie (Hanna) war von Essays zu großen historischen Zusammenhängen auf Einkaufszettelniveau abgestürzt" (Zitat S. 247); diese realen statements gehen sehr unter die Haut, im Kontext mit der größer werdenden Hilflosigkeit, die der Sprachlosigkeit folgt und sich kommunikativ in Schnalzen äußert. Nicht zu lange Kapitel sind oftmals gleichbedeutend mit Zeitsprüngen, die diesen Roman sowohl inhaltlich als auch strukturell anspruchsvoll sein lassen: Bis zur Mitte des Romans hatte ich gewisse Schwierigkeiten mit der Sprache, die nüchtern, hölzern, gar sperrig klingt und ungewohnt zu lesen ist: In der zweiten Romanhälfte jedoch gab sich das und mir gefiel dieser sehr menschliche, auch etwas melancholische Ton durchaus.
Im Nachhinein würde ich sagen, dass die Sprache sehr im Kontext zur Handlung steht und gewollt teils sperrig daherkommt. Der Roman ist eine Art Zeitreise mit einer gesunden jungen Frau, die - ohne den Vater zu kennen und ohne Mutter - bei den sie sehr liebenden Großeltern aufwächst; Abitur macht, studiert und sehr große Lebenspläne verfolgt: Sich der  Freundschaft von Patrizio immer gewiss sein kann, seine Liebe jedoch spät erkennt. Die durch einen Tumor und erlittenen Schlaganfall die Ziele ihrer Lebensreise ändern muss - und mit der Behinderung zu leben versucht. Letzteres ist Verena Boos sehr einfühlsam, emotinal und grandios gelungen, auch mit der Sprache konnte ich mich im Nachhinein durchaus versöhnen. Der Roman endet mit einer letzten Reise nach Venedig, wo sie mit Patrizio nach San Marco fährt, um den Löwen zu sehen. 

Fazit:

Anspruchsvoll, stilistisch und sprachlich gewöhnungsbedürftig; im Nachhinein betrachtet jedoch sehr stimmig zur Romanhandlung: Der Leser wird entschädigt (und mehr als das) mit einem äußerst intensiven Einblick in das Leben und die Psyche einer noch recht jungen Akademikerin mit großen Plänen, die ihre Lebensreise nach einem erlittenen Schlaganfall völlig zu ändern gezwungen ist. "Kirchberg" lässt den Leser u.U. betroffen zurück, ist jedoch absolut lesenswert. Von mir 4 * und 89°/100 auf der Werteskala.