Rezension

Klassiker ein Lesegenuss

Die Liebe in den Zeiten der Cholera - Gabriel García Márquez

Die Liebe in den Zeiten der Cholera
von Gabriel García Márquez

Ich habe diesen Roman im Jahr seines Erscheinens gelesen, seinerzeit also, und damals sah ich viele Parallelen zwischen dieser wunderbaren und auch etwas abstrusen Geschichte, die Gabo in seinem Buch aufrollt, und diesem wunderbaren und auch etwas abstrusen Land Kolumbien, das sich selber heimsucht mit seinen wahnsinnigen Kriegen, Selbstverstümmelungen, Gross-Phantasien und Anmassungen, wo alles wie seine eigene Karrikatur lebt und die Figuren von Fernando Botero nicht eine Überhöhung der Wirklichkeit darstellen sondern die Wirklichkeit spiegeln. - Nun habe ich Die Liebe in den Zeiten der Cholera anlässlich einer neuerlichen Reise nach Kolumbien wieder zu lesen begonnen, und nun lese ich dieses Buch als Buch, als eine Geschichte, die sich einmal irgendwo zugetragen hat, vielleicht in Kolumbien, vielleicht auch anderswo. Eine wunderbare, prallvolle Geschichte, die aber mit den Gegebenheiten dieses Landes immer weniger gemein hat, nicht zuletzt darum, weil sich Kolumbien als moderner, entwicklungsfähiger Staat positionieren und sich selber befrieden will und auch dem wachsenden Mittelstand die Chance gibt, seine eigenen Träume zu verwirklichen. Es gibt noch wahnsinnig viel zu tun, aber irgendwie schöpft es seine Kraft nicht mehr aus dieser abstrusen, herrlichn Welt von Gabo, sondern aus den sich ergebenden heutigen Realitäten mit der Chance, damit auch wirklich Fortschritt zu gewinnen. So rutscht die Liebe in den Zeiten der Cholera vom Reisebuch weg zur Darstellung einer Märchen-Welt, wirkt abgeschlossen und universal, könnte auch auf einer Reise nach Norwegen oder Singapur mit ebensolchem Genuss gelesen werden wie in Kolumbien oder bei sich zu Hause auf dem Balkon. Es ist ein Buch mit wilder Sprache und grosser Weisheit, könnte Vorlage für einen Fellini-Film sein, ist selber einer, einfach weniger dekadent als letzterer. Die Figuren sind so liebevoll gesetzt und verwickeln sich in derart situative Geschichten: Ja, es sind die Beschreibungen der Situationen, welche die Geschichte ausmacht. Es ist weniger eine grosse Geschichte, die man unbedingt von A bis Z lesen muss, sondern auf jeder Seite tun sich Geschichten auf, bis man zum Schluss einen Urwald von Geschichten durchschreitet, wo Papageien plappern, alte Damen ihre Haare kämmen und wo jeder versucht, sich durch diesen Dschungel von Geschichten eine eigene Geschichte zu formen. Das ist das Menschenbild von Gabriel Garcia Marquez: jede Figur bekommt bei ihm die Gelegenheit, seine eigene Geschichte zu gestalten, der Autor gesteht sie ihr zu. Es gibt keine wichtigeren und unwichtigeren Gestalten, weil jeder auf seine Weise mit seinem eigenen Universum das Recht bekommt, dargestellt zu werden. - Das heutige Kolumbien hingegen bietet für die heutige Generation mehr Chancen für Veränderungen an, fordert aber auch, dass die individuellen Geschichten jedes einzelnen im Dienste des Fortschritts etwas in den Hintergrund treten. Es gibt keine Cholera mehr in Kolumbien, oder sie hat sich ganz weit in den Choco zurückgezogen, vorherrschen tun heutzutage nur noch individuelle Fragmente einer Geschichte jedes Individuums. Interesant aber ist, dass jeder Kolumbianer, mit dem ich gesprochen habe, zu seiner individuellen Geschichte auch den Autor von 100 Jahren Einsamkeit, also Gabriel Harcia Marquez zählt.