Rezension

Knapp, dicht, anrührend

Die Bagage - Monika Helfer

Die Bagage
von Monika Helfer

Bewertet mit 5 Sternen

Monika Helfers schmaler Roman spielt zur Zeit des ersten Weltkrieges in einem abgelegenen Tal des Bregenzer Waldes. Es ist die Geschichte ihrer Familie, die von Familien schlechthin und ihren komplexen Beziehungen und Rollenzuschreibungen. Eine Geschichte über die Dynamik von Dorfgemeinschaften. Auch eine Geschichte über den Krieg als großen Katalysator, der Menschen verändert und Dinge in Bewegung bringt.

Schon mit dem ersten Satz hatte Helfer mich am Haken: „Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten!“ Eigenwillig knappe, klare Sätze zeichnen ein Leben in Armut, das dennoch reich ist, denn die Eltern (der am Anfang der Geschichte vier) Kinder lieben sich und ihre Kinder, wenngleich sie das so nicht formulieren würden, und der Alltag ist hart, aber man hat ein Auskommen, auch dank Josefs „Geschäftchen“. Dann passiert Sarajewo – und „Maria wusste, dass Krieg war, aber dass er je mit ihnen tun haben würde (…), das war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen.“

Josef wird eingezogen und schwört den Bürgermeister des Dorfes darauf ein, auf Maria aufzupassen, denn Maria ist über alle Maßen schön. In unserer Welt wäre das ein großes Geschenk, nicht so in den Bergen, denn wie der Dorfpfarrer es ausdrückt: „Glaubt denn einer, der Herrgott formt so ein Gesicht? Glaubt denn einer, der Herrgott ist ungerecht? (…) So ein Dreck wächst bei uns nicht. So ein Dreck wächst vielleicht in der Stadt.“ Marias Schönheit ist eine zusätzliche Last, die sie tragen muss. Auch ihre lebhafte Art wird ihr zum Nachteil ausgelegt, sie gilt als leichtlebig.

Dann kommt ein Mann aus Hannover ins Dorf, der Maria umwirbt und wieder verschwindet. Maria wird nach dem Heimaturlaub Josefs schwanger, aber die Dorfbevölkerung, allen voran der Pfarrer, ist davon überzeugt, dass das Mädchen Grete, das in der Abwesenheit ihres Vaters geboren wird, ein Kuckuckskind sein muss. Zu Recht? Josef kommt zurück und wird in seinem Leben nie mit dieser Tochter sprechen, sie nicht einmal ansehen. Grete ist die früh verstorbene Mutter der Autorin, die in einem Interview sagte: „Bei so einer Kindheit muss man komisch werden.“ Und dass ihre Mutter und ihre ebenso verstorbene Tochter ihre ständigen Begleiter sind.

Der frühe Tod zieht sich durch die Familiengeschichte. Auch Maria und Josef sterben früh - die Bagage ist auf sich gestellt. „Und dann war wieder Winter. Und sie hatten gar nichts mehr.“ „Damals ging es ums pure Fressen,“ sagt Helfers Tante Katharina, ihre wichtigste Quelle. „Keiner im Dorf, der die Bagage nicht bewundert hätte. (…) Niemand hatte Zweifel, dass Lorenz (Zweitältester) den Mann erschießen würde, der ihn daran hindern wollte, seine Geschwister zu ernähren.“ Aber: „Bei aller Bewunderung: Abschaum waren sie.“ Für Helfer jedoch ist „Bagage“ bis heute ein Ehrentitel. Der Roman ist ihrer Bagage gewidmet.

Ihrer Großmutter Maria hat sie mit diesem Text ein Denkmal gesetzt. Sie lässt eine Welt wiederauferstehen, die es seit 100 Jahren nicht mehr gibt und die dennoch bis weit in die Gegenwart hineinreicht. Ich konnte das schlichte Haus der Moosbruggers mit ihrem Brunnen vor mir sehen, so bildhaft ist Helfers dichte Sprache.

Ein unsentimentales, anrührendes Buch, so intensiv, man möchte es als Destillat bezeichnen. Meisterlich.