Rezension

Knochenuhren

Die Knochenuhren - David Mitchell

Die Knochenuhren
von David Mitchell

Bewertet mit 4 Sternen

Die Bedeutung des Titels "Die Knochenuhren" (OT: The Bone Clocks) erschließt sich dem Leser im Handlungsverlauf und bewirkte bei mir einen von so vielen Aha-Effekten bei der Lektüre dieses unglaublich vielschichtigen Romans. Es ist Mitchells ureigene Erzählstimme und Sprache, die mich bereits bei "Der Wolkenatlas" (OT: Cloud Atlas) fesseln konnte. Seine Werke verlangen dem Leser allerdings auch höchste Konzentration ab, nur eine Unachtsamkeit rächt sich sofort und führt dazu, dass man in der Komplexität hoffnungslos untergeht. So erging es mir bei diesem Werk. Ich startete mit dem ungekürzten Hörbuch (Verlag Kuebler) und verlor beim zweiten Abschnitt kurz den Faden – das war´s. Ich verhedderte mich im mannigfaltig verflochtenen Gedankenkonstrukt und habe nach kurzem Bedauern wieder von vorn begonnen, weil ich das Gefühl hatte, diese unglaubliche Geschichte nur dann richtig wertschätzen zu können, wenn ich sie mit voller Aufmerksamkeit erlebe. Warum es sich mehr als gelohnt hat, trotz kleinerer Abstriche, versuche ich nachfolgend in Worte zu fassen.

Worum geht es denn überhaupt? Nun auf diese Frage gibt es natürlich auch eine Antwort (wäre ja schade, wenn nicht) ABER diese Antwort ist – man ahnt es schon – komplex. Ganz grob gesagt geht es um Sterblichkeit und den Umgang mit ihr. Das, was wir zu Lebzeiten tun, hat nicht nur Auswirkungen auf unser eigenes Dasein, sondern eben auch auf die nachfolgenden Generationen. Natürlich spielen auch die Menschen um uns herum eine Rolle, welchen Einfluss haben wir auf sie und umgekehrt? Um das Symbol einer Uhr aufzugreifen: Es sind viele kleine Räder nötig, die perfekt ineinander greifen, damit das Uhrwerk im Gesamten funktioniert. Das Kleine bestimmt das Große. Und so baut Mitchell sein Werk auf sechs Teilen auf, die aus fünf Perspektiven mit entsprechender eigener Stimme erzählt werden, zu unterschiedlichen Zeiten spielen, verschiedene Genre bedienen und am Ende dann ein großes Ganzes bilden. Jeder der besagten Teile könnte auch als eine eigene Geschichte stehen, funktioniert am Ende aber als Gesamtgefüge hervorragend. Klingt kompliziert? Ist es auch – aber gleichzeitig ist es auch ein fantastischer Lese-/Hörgenuss, denn die Virtuosität, die der Autor beim Spinnen seiner vielen Fäden zu einem formvollendeten Netz an den Tag legt, ist meisterhaft.

Mitchell beginnt mit der 15-jährigen Holly Sykes im Jahr 1984 und einer mysteriösen Begegnung, deren konkrete Auswirkungen und Bedeutung ihr erst Jahre später klar werden sollen. Im zweiten Kapitel (1991) lernen wir den zwielichtigen Cambridge-Studenten Hugo Lamb näher kennen, ein wahrer Unsympath aber auch ein spannender Charakter mit einer ebenso interessanten Geschichte. Weiter geht es im Jahr 2004: Ed Brubeck ist Kriegsreporter im Irak aber auch Ehemann und Vater einer kleinen Tochter. Er kämpft gegen seine innere Zerissenheit an, denn er muss seine kriselnde Ehe und das Familienleben gegen das Adrenalin an den Kriegsschauplätzen der Welt abwägen. Dieses Kapitel ist sehr gut recherchiert, wirkt aber auch oft etwas trocken. In Teil vier machen wir einen großen Zeitsprung (2015 – 2020) und begegnen dem Schriftsteller Crispin Hershey. Ein herrlich humoriges, scharfzüngiges Kapitel aus der Sicht eines zynischen Mannes, das mich sehr gut unterhalten hat. Wir "reisen" weiter und befinden uns nun im Jahr 2025. Jetzt erfahren wir endlich konkret, was es mit den seltsamen Begegnungen, Erscheinungen und Vorfällen, die bisher meist nur dezent am Rande verliefen, auf sich hat. Das Phantastik/Fantasy/Fiktion-Genre wird hier großzügig bedient. Stellenweise störte mich hier nur der esoterische Touch und es war für mein Empfinden oft zu viel des Guten. Für das Gesamtverständnis ist dieser Teil aber ungeheuer wichtig. Mit Holly begann die Geschichte und mit ihr endet sie auch folgerichtig im Jahr 2043: Mitchell entlässt den Leser aus seinem fantasievollen Spinngewebe mittels einer dystopischen Zukunfstvision, die einen gesellschaftskritischen Ton anschlägt und sehr nachdenklich stimmt.

Was für eine Reise! Lang, abwechslungsreich, vielseitig, ab und an beschwerlich, dabei immer fesselnd und niemals uninteressant. Mitchell führt alle losen Fäden zusammen, erzählt seine unglaubliche Geschichte konsequent zuende und hat es einmal mehr geschafft, mich zu überzeugen. Es ist nicht alles perfekt, es gab Längen und Parts, die mich weniger als andere angesprochen haben aber insgesamt hat mich die Geschichte der Knochenuhren fasziniert. Nicht zuletzt haben natürlich auch die hervorragende Sprache und das große Erzähltalent des Autors dazu beigetragen. Alle Figuren (auch die Nebenfiguren) waren grandios gezeichnet und authentisch. Indem Mitchell jedem Charakter eine ganz eigene Stimme gegeben hat und seinen Erzählstil sowie die Sprache angepasst hat, konnte er stets überzeugen und mitreißen. Bemerkenswert ist auch die Genrevielfalt, die für (fast) jeden Lesergeschmack spannende Unterhaltung bereithält: Coming-Of-Age, Bildungsroman, Kriegsreportage und Erzählungen aus einer Ehe, Künstlerroman, Mystery meets Esoterik und zu guter Letzt Fiction/Dystopie. Für Mitchell-Liebhaber gibt es schließlich noch einen weiteren Bonus, denn auch er hat (ähnlich wie Stephen King) mit seinen Werken ein ganzes Universum kreiert. Und so tauchen hier und da ganz subtil Figuren aus seinen anderen Romanen auf, was dem Leser immer wieder das ein oder andere Lächeln, bzw. Staunen entlockt - sofern man es denn überhaupt bemerkt. Chapeau!

Fazit

Für David Mitchells Geschichten braucht man als Leser Ruhe und Zeit. So war "Die Knochenuhren" ein für mich stellenweise unbequemer Roman, der letztlich aber vielleicht genau deshalb überzeugen konnte und noch lange nachgewirkt hat. Sprachlich hervorragend besticht er durch Vielschichtigkeit in jeder Hinsicht. Virtuos konzipiert vereint diese etwa 800 Seiten starke Geschichte zahlreiche Genre, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Der für mich dritte Roman des britischen Autors und definitiv nicht mein letzter.

„Damit eine Reise beginnen kann, muss eine andere Reise zu Ende gehen.“