Rezension

Kolonialgeschichte, atmosphärisch und dicht

Nachleben -

Nachleben
von Abdulrazak Gurnah

Bewertet mit 5 Sternen

Die Geschichte von „Nachleben“ beginnt um 1880 im indischen Gujarat, wird fortgesetzt in einer ungenannten kleinen Hafenstadt im damaligen Tanganyika und spannt den Bogen bis 1963 ins Bonn und Berlin der Nachkriegszeit.  

Das historische Zentrum von Gurnahs Roman sind die Kolonialkriege in Deutsch-Ostafrika. Die Deutschen und das Blutbad, das sie dort anrichten, werden zur Schreckenskulisse für die Geschichte einer Handvoll einfacher Afrikaner. In zunächst fast dokumentarischer Kürze stellt Gurnah uns seine Figuren vor. Da sind Khalifa, ein indisch-afrikanischer Bürogehilfe, sein Freund Ilyas,  Ilyas kleine Schwester Afiya, von ihrem Bruder aus der Leibeigenschaft gerettet, und Hamza, der als kriegsmüder Veteran der erwachsenen Afiya begegnet und mit ihr auf ein neues Leben jenseits der Gewalt hofft. Sie alle kennen nichts anderes als das Leben unter der deutschen Kolonialherrschaft. Jeder Widerstand von afrikanischer Seite wurde bereits vor ihrer Geburt „ausgehungert, zermalmt und niedergebrannt“.

Als die Briten mit den Deutschen in den Krieg um die Region eintreten, schließen sich Hamza und Ilyas den Askari an, der deutschen „Schutztruppe“. An ihrem Beispiel erleben wir, was es bedeutet hat, für die Kolonialherren zu kämpfen:

„Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, der Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.“

Dabei kommt unweigerlich die Frage auf, was die Askari bewegt hat, mit den Usurpatoren gemeinsame Sache gegen ihre Landsleute zu machen, ja sich sogar mit ihnen zu identifizieren. An seiner Figur Ilyas zeigt Gurnah das Phänomen der inneren Kolonisierung. Ilyas wurde entführt und auf eine deutsche Kaffeeplantage verpflanzt. Der Plantagenbesitzer kümmerte sich um ihn, lehrte ihn Deutsch und ließ ihn auf die Missionsschule gehen. Ilyas wächst auf im Bewusstsein der „unterlegenen“ afrikanischen Kultur und übernimmt die deutsche Perspektive - aus Überzeugung. „Die Deutschen sind ehrenhafte und zivilisierte Menschen und haben seit ihrer Ankunft viel Gutes getan,“ sagt Ilyas, bevor er sich der Schutztruppe anschließt. „Bist du verrückt geworden? Was hat das alles mit dir zu tun? Hier geht es um einen Konflikt zwischen zwei brutalen Besatzungsmächten. […] Sie streiten darum, wer sich uns einverleiben darf“, entgegnet ihm Khalifa. Vergeblich.

Die Rolle der Kirche, die den Machthabern in die Hände spielt, wie so oft in ihrer Geschichte, beleuchtet Gurnah mit der Figur des wohlmeinend-rassistischen Pastors einer deutschen Mission, der Hamza nach einer Kriegsverletzung das Leben rettet.

Obwohl Gurnah die Verbrechen der Kolonialmächte benennt, reduziert er die Geschichte der Region nicht auf ihr Leiden. Vielmehr stellt er der zermalmenden Gewalt der Kolonisierung die Menschlichkeit, Tragik und Komik seiner Figuren entgegen, denen es trotz allem gelingt, ein erfülltes Leben zu führen. Wie Gurnah dieses Leben zwischen den beiden Weltkriegen schildert, habe ich als unglaublich atmosphärisch und dicht empfunden.

Ilyas, der auch nach den Kriegen nicht zurückkehrt, bleibt durch den ganzen Roman hindurch präsent wie eine Negativform. Am Ende wird ihm seine Liebe zum Deutschtum zum Verhängnis, und zwar auf eine so krasse, ironische Weise, dass ich förmlich erschlagen war. Zutage bringt dies sein nach ihm benannter Neffe, dessen Recherche von einem deutschen Stipendium gefördert wird.

Gurnahs Kenntnisse der (deutschen) Geschichte sind beeindruckend. Die Romankonstruktion und wie er zwischen epischer Erzählung und dokumentarischer Reduktion wechselt, fand ich meisterhaft. Zwar hätte ich mir zum rasanten Ende des Romans hin etwas mehr Ausführlichkeit vorstellen können; das aber kann den Gesamteindruck nicht beeinträchtigen.

Fazit: Ein Epos mit hohem Erkenntniswert, das auf emotionalen Effekt verzichtet und einen dennoch packt.