Rezension

Komplexer Gesellschaftsroman, nichts für zartbesaitete Leser, spannend bis zum Schluss

Die Zeit der Ruhelosen - Karine Tuil

Die Zeit der Ruhelosen
von Karine Tuil

Bewertet mit 5 Sternen

In einem Hotel auf Zypern kreuzen sich die Lebenswege mehrerer Franzosen. Romain Roller kehrt voller Schuldgefühle von einem kurzen Einsatz in Afghanistan zurück, der zwei seiner Männer das Leben kostete und einen zum lebenslangen Pflegefall machte. Marion Decker hat als junge Journalistin den Einsatz begleitet. Osman Diboula, ein charismatischer Politiker, Kind des sozialen Brennpunktes Clichy-sur-Bois und beflissenes Aushängeschild des französischen Präsidenten, ist in offizieller Mission auf Zypern. Osman war zuhause in Frankreich der Sozialarbeiter der Jungs und hat es seitdem zum Präsidentenberater gebracht. Der Zwischenaufenthalt auf der Insel soll wie eine Depressionskammer auf die Kriegsheimkehrer wirken. Hauptsächlich soll jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen werden, wie leichtfertig vorbereitet und miserabel ausgestattet Soldaten in den Einsatz geschickt wurden. Alle beteiligten Personen erleben im Folgenden einen persönlichen oder beruflichen Absturz, der wie eine Lawine weitere Angehörige mitreißen wird.

Romain, dessen Frau ihm seit ihrer Jugend stets den Rücken freigehalten und alle Belastungen klaglos weggesteckt hat, verliebt sich auf dramatische Weise in Marion. Marions Ehe mit einem der mächtigsten Wirtschaftsbosse Frankreichs befindet sich in der Krise. Die Autorin eines erfolgreichen Romans muss erkennen, dass es in François Vélys Kreisen nur am Rande um Liebe geht. Wichtiger sind der korrekte Code, das Gespür für soziale Nuancen – und in Marions Fall, wer ihren Lebensunterhalt sichert, ihre persönliche „Komfort-Zone“. Die sozialen Gräben zwischen altem Wohlstand und jungem Ehrgeiz sind zentrales Thema des Buches. Osman Diboula ist als Kind von Einwanderern aus der Elfenbeinküste in einem sozialen Brennpunkt geboren. Die Unruhen von 2005 waren Geburtsstunde seiner politischen Karriere. Vom Streetworker gelangte er als Quoten-Migrant mit einem einzigen Karriereschritt direkt in den Elysée-Palast. Über ihn und seine Partnerin Sonia Cissé, ebenfalls Kind eines afrikanischen Vaters, wird bereits gewitzelt, sie seien Frankreichs zukünftige Obamas. Doch die Codes der Oberschicht grenzen Osman aus, schaffen ein mentales Ghetto für ihn.

Bisher war François stets Lieblingskind des Schicksals, obwohl sein Vater noch mit dem Familiennamen Levy als Widerstandskämpfer in Buchenwald inhaftiert war. Ein Moment der Instinktlosigkeit bringt nicht nur François‘ gesamten großbürgerlichen Kosmos zum Absturz, sondern macht ihn weltweit zum Paria. Aus der beruflichen wie privaten Katastrophe scheint François‘ Scharfsinn ihn zum ersten Mal nicht retten zu können. Auch Osman gleitet in atemberaubendem Tempo aus seiner Komfortzone, ausgelöst durch einen Moment der Unbeherrschtheit. Osman kann jedoch auf kein doppeltes soziales und finanzielles Netz zurückgreifen, wie Mitglieder der Eliten. Wenn er seinen Job als Präsidentenberater verliert, fallen mit ihm seine betagten Eltern, die von der Unterstützung durch ihren Sohn abhängig sind, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben. Es fällt auch Sonia, die bis dahin geglaubt hatte, sich aus eigener Kraft durch Leistung hochgearbeitet zu haben. Und wieder kommt es zu einem für die französische Klassengesellschaft ungewöhnlichen, schicksalhaften Zusammentreffen der Beteiligten …

Tuils Figuren stehen stellvertretend für eine Gesellschaft zementierter Klassenschranken, für drängende soziale Konflikte, nicht nur in Frankreich. Auf welcher Seite des sozialen Grabens jemand geboren wird, scheint über Generationen weiter vererbt zu werden. Osmans Fall empfand ich als den tiefsten Abstieg, weil er erkennen muss, dass er im Kalkül um Macht nur Mittel zum Zweck war. Ohne fachliche Qualifikation wird er der schwarze Junge aus Clichy-sur-Bois bleiben, egal wem er gerade als Aushängeschild dient. Solange es dabei allein um den Machterhalt Einzelner geht, löst Politik keine Probleme, nicht in Clichy-sur-Bois, nicht in Afghanistan oder im Irak.

Auslöser für Tuils großartigen Roman war ein konkretes Ereignis im Jahr 2008, die Handlung jedoch ist fiktiv. Es geht darin um Macht, Ehrgeiz, Scheitern, versehrt Werden, Identitätskonflikte, pubertäre Rebellion, um den Krieg, die Sprengkraft von religiösem Extremismus, männliche Identität und eine komplexe Gesellschaft, in der ich mich auch als deutsche Leserin wiederfinden kann. Karine Tuils Einführung ihrer miteinander verketteten Personen zieht augenblicklich in die Handlung hinein. Die Tochter von Einwanderern charakterisiert ihr Personal pointiert wie in einer umfassenden psychologischen Analyse, trennt dabei Selbsttäuschung von Realität. Stilistisch sitzen ihre Charakterisierungen auch in der Übersetzung ins Deutsche wie maßgeschneidert.

Ein komplexer Gesellschaftsroman, nichts für zartbesaitete Leser, intensiv und spannend bis zum Schluss.