Rezension

Kongenitale Analgesie: neun Silben für die Abwesenheit von Schmerz

Herzklappen von Johnson & Johnson - Valerie Fritsch

Herzklappen von Johnson & Johnson
von Valerie Fritsch

Bewertet mit 5 Sternen

Kann ein Kind ohne Schmerzen, das die Aspekte der Verwundbarkeit auswendig lernt wie Vokabeln, sich zu einem mitfühlenden Wesen entwickeln – und das in einer Familie, die Jahrzehnte der Schuld und des Traumas stumm weiterreicht?⠀

Der Klappentext lässt vermuten, der kleine Emil sei der Protagonist – der Charakter, auf dem für einen Großteil des Buches das Hauptaugenmerk liegt, aber vor allem der Akteur, der die Geschichte aktiv vorantreibt. Tatsächlich wird er jedoch erst zur Hälfte des Buches geboren, und auch danach sieht man die Dinge höchst selten aus seinem Blickwinkel. Der Leser betrachtet ihn vielmehr durch die Augen seiner Mutter Alma von außen, besorgt und fasziniert.⠀

Alma ist schon als Kind hochintelligent, hinterfragt alles, sperrt sich gegen Erwartungen – beobachtet die familiären Strukturen wachen Auges und erahnt die sorgfältig versteckten Abgründe. Sie, die vom Krieg nichts wissen kann, spürt dessen Nachwehen in der emotionalen Kälte des Elternhauses. Die Großmutter fängt erst an, über die schlimme Zeit zu reden, als die Demenz ihr die Hemmungen raubt, der Großvater ist wenig mehr als eine stille Abwesenheit.⠀

“Das Bild der gelben Narzissen in den Händen der alten, nackten Frau, ihre Gänsehaut über der haarlosen Scham, diese asketische Galgenschönheit, die dem Tod vorausging, sollte Alma ihr Leben lang nicht mehr vergessen.”⠀

Später, erfährt der Leser, lernt Alma Friedrich kennen und lieben, was nach einer langen Fernbeziehung zu einem mehr oder weniger glücklichen Miteinanderleben ohne Illusionen und zu Emils Geburt führt – gefolgt von einer Wochenbettdepression und der erschütternden Erkenntnis, dass Emil anders ist.⠀

Es sind Alma und ihre Großeltern, die für einen Großteil des Buches auf der Bühne der Geschehnisse stehen, doch Emil ist durch seine Analgesie Inbegriff und gleichzeitig Kontrapunkt der Thematik. Seine Schmerzlosigkeit unterstreicht vergangenes und gegenwärtiges Leid.⠀

Emil legt die Hand auf die heiße Herdplatte, weil die Brandblasen so lustig blubbern. Er rammt sich einen Stift so heftig in den Arm, dass er steckenbleibt. Sein Kinderzimmer ist geschmückt mit unzähligen Röntgenaufnahmen, eine Galerie gebrochener Knochen und lädierter Organe.⠀

“Es waren intime Porträts, der vollständige Bauplan eines Kindes, ein ganzes gespenstisches Menschengerüst von den Zehenknöchelchen bis zur Schädelkalotte hing an den Zimmerwänden. Immer wieder staunte Alma, das man so leicht zerbrechen und doch so aufrecht stehen konnte.”⠀

Alma kümmert sich aufopfernd um ihn, widmet ihr waches und träumendes Leben seiner Unversehrtheit. Gleichzeitig regt seine Schmerzblindheit sie dazu an, der Familiengeschichte nachzuspüren, dem Schmerz und der Schuld von Generationen.⠀

Denn was eint die Menschen mehr als der Schmerz?⠀

Es ist ein Empfinden, das jeder kennt, das keiner Erklärung bedarf. Emil jedoch, der Schmerzlose, der Unschuldige, wird zum Symbol: fleischgewordene Sühne, das Negativbild seines Urgroßvaters, dessen Kriegstraumata und Kriegsverbrechen niemals beim Namen genannt werden.⠀

Dabei wirkt es fast so, als seien auch ihre Körper Abbilder des jeweils anderen: während Emil nach unzähligen Knochenbrüchen Schrauben und Metallplatten in sich trägt, wurde sein Urgroßvater nur durch die titelgebenden Herzklappen aus Metall am Leben erhalten.⠀

In Alma wächst die Entschlossenheit, bestimmte Orte aus dessen Kriegserleben mit eigenen Augen zu sehen, um mit dem ererbten Leid abschließen zu können – um die schuldbewusste Traurigkeit zu verbannen, die die Familie umgibt wie ein dunkles Miasma.⠀

Der Schreibstil ist großartig. Ruhige, fast schon karge Sätze entfalten sich in bestechend präzisen Beobachtungen, die ein Stück Leben nach dem anderen aus dem Würgegriff der vermeintlichen Normalität befreien. Das ist mal der einsame Alltag eines frühreifen Kindes, mal die persönliche Hölle eines Kriegsgefangenen, mal das stille Leiden einer gebrechlichen Alten.⠀

Dann folgen wiederum traumhafte Passagen mit fast schon lyrischem Timbre. Die Autorin schildert die Geschehnisse einfühlsam und subtil, in wunderschönen Formulierungen und klaren, eindrücklichen Bildern – ohne zu beschönigen oder kleinzureden.⠀

Die Autorin hat ein besonderes Gespür für den Schmerz, den alltäglichen wie den außergewöhnlichen: sie sieht das, was nicht zusammenpasst, was zuwiderläuft, was hätte sein sollen aber nicht ist. Man atmet erstaunt auf, nur um dann bekräftigend zu nicken: ja, so ist das. Auch das, was vom eigenen Leben so weit entfernt ist wie nur irgend möglich, hat den Klang der Wahrheit, den Widerhall des selbst Erlebten.⠀

Fazit⠀

Der Roman erstreckt sich über vier Generationen einer Familie: vom Urgroßvater, über dessen Opfer- und Täterschaft im Krieg nicht gesprochen wird, bis hinunter zum Urenkel, der durch einen Gendefekt keinen Schmerz empfinden kann.⠀

Für mich war “Herzklappen von Johnson & Johnson” ein Roman mit unwiderstehlicher Sogwirkung – alleine schon wegen der großartigen Sprachmelodie, aber die Autorin konnte mich auch inhaltlich voll überzeugen.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-valerie-fritsch-herzklappen-vo...

Kommentare

Emswashed kommentierte am 08. September 2020 um 08:39

Da hast Du aber ein interessantes Buch aufgetan, ich danke Dir für die Vorstellung! Und Deine Überschrift ist mal kongenial (das Wort, was ich zuerst geglaubt habe zu lesen - so merkt man sich Fachbegriffe - super)!