Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Konkurrenz im eigenen Haus

Immer wieder das Meer - Natasa Dragnic

Immer wieder das Meer
von Natasa Dragnic

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ein ganz berühmter Satz der Weltliteratur geisterte mir während der Lektüre von Nataša Dragnićs neuem Roman immer wieder durch den Kopf: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre eigene Art.
Für die Alessis beginnt das Unglücklichsein ganz schleichend, fast unmerklich. Zu Beginn des Romans sind sie eine herzliche Familie, die im Beisammensein das Glück empfindet. Die drei Schwestern sind sich sehr zugetan und doch grundverschieden. Die Eltern streng und liebevoll. Das Meer ist ihrer aller Heimat und Zuflucht, auch wenn die Mutter eigentlich aus München stammt und kein italienisches Blut durch ihre Adern fließt. Während Erika das erste leichte Zittern ihrer Hand bemerkt, begegnet der ältesten Tochter Roberta im Urlaub mit dem Verlobten die große Liebe. Die Verlobung ist schnell gelöst, doch die neue Liebe zu dem Dichter Alessandro ist kompliziert und kräftezehrend für die junge Medizinstudentin. Alessandro nimmt sich viel Zeit für sich und seine Gedichte. Roberta liebt und wartet ihre gesamte Studienzeit, bis sie schließlich eine Entscheidung trifft, die Alessandro aus ihrer Zukunft ausschließen soll und plötzlich kommen Dinge ins Rollen, die das Familienglück nachhaltig beeinträchtigen werden. Die Schwestern Roberta, Lucia und Nannina entdecken sich als Konkurrentinnen, verzehren sich nach dem selben Mann und suchen jede auf ihre eigene Art nach Halt und Geborgenheit im Leben. Die Eltern können nur ohnmächtig daneben stehen, begreifen ihre Mädchen längst nicht mehr und sind ganz mit eigenen Problemen ausgefüllt, die immer existenzieller für sie werden. Erika erkrankt an Parkinson, die Krankheit schreitet schwer und schnell voran. Niccoló will die Familie zusammenhalten und ignoriert stoisch eigene Befindlichkeiten. Am Ende heiratet eine der Schwestern den Dichter Alessandro, aber wird sie ganz allein ohne die Familie zum Altar schreiten müssen?
Nataša Dragnić wandert mit uns Lesern durch die vergangenen drei Jahr-zehnte und über Länder und Kontinente hinweg. Chronologisch erzählt sie von der ersten Begegnung Robertas mit Alessandro bis zur Hochzeit desselben mit einer der Schwestern. Der Blick der Autorin ruht dabei abwechselnd auf jedem einzelnen Familienmitglied. So lernen wir die unterschiedlichen Schwestern und ihre Eltern gut kennen. Die übrigen Figuren des Romans erschließen sich nur über die Blickwinkel der Familie Alessi. So sehr es uns Leser auch interessieren würde – Alessandros eigene Ansichten zur Liebe und zu seinen Beziehungen erfahren wir leider nicht erster Hand aus der Erzählersicht. Warum er sich letztlich auf alle Schwestern einließ, bleibt den dreien und damit auch uns Lesern verborgen.
Doch es gibt auch noch eine andere Stimme im Roman. Eine Ich-Erzählerin, die von einer nahen Vergangenheit erzählt und uns eine Gegenwart beschreibt, in der sie Alessandro Lang heiraten wird. Sie erzählt poetisch verdichtet von ihrem persönlichen Schmerz, von Verlust und Trauer, und von der Hoffnung auf eine glückliche Familie. Ihre Stimme ließ in mir Tolstojs bekannten Satz anklingen und erahnen, wie dicht Glück und Unglück in einer Familie zusammen hängen können.