Rezension

Kopfkino in der Wellblechhütte

Die Filmerzählerin - Hernán Rivera Letelier

Die Filmerzählerin
von Hernán Rivera Letelier

Bewertet mit 5 Sternen

Hitze, Trockenheit und Armut herrschen in der kleinen Siedlung in der chilenischen Atacama-Wüste, wo die Männer im Salpeter-Abbau beschäftigt sind. Dort lebt die 10jährige Maria Margarita mit ihrem gelähmten Vater und ihren vier älteren Brüdern. Einzige Abwechslung im trostlosen Alltag der Dorfbewohner bietet das Kino, das am Wochenende alte amerikanische Filme zeigt - falls der Vorführer nicht gerade zu betrunken ist. Früher, bevor der Vater seinen Unfall hatte und bevor die Mutter daraufhin die Familie verließ, gingen sie alle zusammen hin, doch jetzt reicht das Geld gerade noch für eine Eintrittskarte. So hat der Vater Maria ausgewählt den Film anzuschauen und danach den anderen zu erzählen. Sie macht das gut, sehr gut sogar – sie schlüpft in die Rolle der entsprechenden Figur, verkleidet sich, tanzt und singt zu den entsprechenden Szenen. Es spricht sich herum in der Siedlung, sie wird berühmt und bald kommen in die kleine Hütte immer mehr Besucher, die meist gerne ihren Obolus für die Vorführung entrichten. Um auch Kranken und Alten eine Freude zu bereiten, macht Maria sogar Hausbesuche, was ihr eines Tages zum Verhängnis werden sollte. Ihre Begeisterung und Freude an den Darbietungen erlischt, sie zieht sich zurück. Das endgültige Aus kommt, als das Fernsehen seinen Einzug in die Siedlung hält …  

Der Autor Hernán Rivera Letelier (*1950 in Chile) wuchs in einer Salpeter-Bergarbeitersiedlung in der Atacama-Wüste auf. Im Alter von 17 Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, begab er sich auf Wanderungen, die ihn nach Bolivien, Peru, Ecuador und Argentinien führten. 1973 kam er in seine Heimat zurück, arbeitete in einer Salpetermine, erlangte in Abendkursen seinen Schulabschluss und unterrichtete später an der Oberschule. Für einen Wettbewerb schrieb er ein Liebesgedicht und gewann den ersten Preis - ein Abendessen. Er blieb beim Schreiben und erhielt für seine Geschichten über das Leben in den chilenischen Salpeter-Bergbaugebieten bereits einige Ehrungen und Preise. Letelier ist verheiratet und lebt (2011) mit seiner Frau und vier Kindern weiterhin in der Salpeter-Siedlung Antofagasta.

„Die Filmerzählerin“ ist ein bezauberndes Büchlein, das ich bereits früher schon einmal gelesen hatte und das mich auch jetzt wieder, 8 Jahre später, sofort in seinen Bann gezogen hat. Trotz der geschilderten Tristesse ist die Geschichte keinesfalls traurig, sondern lebt von leiser Melancholie und sachter Situationskomik. Es ist eine Hommage an die Erzählkunst, eine Liebeserklärung an die Filmkunst und an die Kraft der Phantasie. Der Autor schildert äußerst anschaulich, beinahe magisch, die trostlose Landschaft und das Leben seiner Bewohner, die trotz aller Beschwernis ihre Lebensfreude bewahrt haben. Sein Schreibstil ist präzise und klar, er lässt die Protagonistin ihre Geschichte selbst erzählen, lässt sie den Leser direkt ansprechen und so unmittelbar an ihnen Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten teilhaben.

Fazit: Ein dünnes Büchlein, in dem so viel drinsteckt, eine Achterbahn der Gefühle zwischen melancholischer Traurigkeit und unbändiger Lebensfreude. Sehr empfehlenswert!