Rezension

Krisenbericht

Long Bright River - Liz Moore

Long Bright River
von Liz Moore

„Als ich meine Schwester das erste Mal tot auffand, war sie sechzehn.“ Mit diesem erschütternden Satz beginnt Liz Moore eines der Kapitel in diesem beeindruckenden Roman. Er spielt in Kensington, einem Stadtteil von Philadelphia, das bessere Zeiten gesehen hat, als die Fabriken dort noch in Betrieb waren, das Geschäft florierte und Wohlstand in das Viertel brachte. Zwei Weltkriege und die große Wirtschaftsdepression brachten den Niedergang; viele der verlassenen Reihenhäuser, die einst Arbeiter- und Handwerkerfamilien beherbergten, werden nun von Obdachlosen und Drogenabhängigen bevölkert, und Zuhälter und Drogendealer gehen in den Nebenstraßen ihren Geschäften nach. Damit sind wir beim Hauptthema des Romans: eine Gesellschaft, die unter dem Einfluss von Drogen zerbröckelt. Ganze Familien erodieren unter ihrem Einfluss. Man spricht von der Opioid Crisis, unter deren Einfluss seit 2015 die durchschnittliche Lebenserwartung der Amerikaner wieder sinkt.

Auch Mickeys und Kaceys Mutter ist an einer Überdosis gestorben. Die Schwestern wachsen bei ihrer lieblosen Großmutter auf. Früh übernimmt Mickey die Verantwortung für jüngere Schwester. Kacey gerät in schlechte Gesellschaft  und gleitet ab in die Sucht samt Beschaffungsprostitution. Mickey schafft es in den Polizeidienst und in ein geregeltes Leben. Zur Zeit der Handlung haben die Schwestern sich entzweit, aber dennoch behält Mickey ihre Schwester bei ihrer Arbeit als Streifenpolizistin heimlich im Auge. Nun ist Kacey verschwunden, es gibt eine Reihe weiblicher Leichenfunde und Mickey, die nicht mehr „nur“ die finale Überdosis fürchtet, geht große Risiken ein, um ihre Schwester zu finden.

Moore zeichnet eine zerrissene Gesellschaft: In nahezu jeder Familie gibt es Drogen. Herzzerreißend ihre  unsentimentale Schilderung der Babys, deren erste Lebenserfahrung der Entzug ist. Ich habe schon einiges über dieses Thema gelesen, aber erst mit diesem Roman emotional verstanden, mit welcher Bürde diese Kinder ins Leben starten. Die Süchtigen sind die Parias des Viertels, aber auch Mickey steht allein. Ihr Job entfremdet sie ihrer proletarischen Verwandtschaft, verringert aber keineswegs die Distanz zum Bildungsbürgertum, dem sie in der zu teuren Tagestätte ihres Sohnes begegnet. Als alleinerziehende Frau, zu naiv-anständig für berufliches Taktieren, sitzt Mickey zwischen allen Stühlen.

Den Roman als Krimi zu lesen, greift zu kurz, trotz des gut konstruierten und spannenden Krimiplots. Moore legt einen sensiblen Familien- und Gesellschaftsroman vor, mit einer zweiten Erzählebene, die immer wieder Abstecher in die Vergangenheit der Schwestern macht. Die dritte Protagonistin ist die Stadt Philadelphia, eine der ältesten Städte der USA. Moore fängt das Lebensgefühl der Alteingesessenen von Kensington ein, die einerseits verwilderte Brachen und zerfallende Häuser in ihrer Nachbarschaft haben und sich andererseits von mondänen Zuzüglern bedrängt und abgewertet finden. Mir gefiel auch, dass wir es diesmal nicht mit dem üblichen smarten, aber unterschätzten Überflieger-Detective zu tun haben, sondern mit einer bodenständigen jungen Frau, die ihren Berufsalltag und ihr Viertel liebt und sich ihren „Kunden“ verpflichtet weiß.

Moore wartet bis zum letzten Romandrittel, bis sie Mickey ihre Bombe platzen lässt und macht klar, dass niemand ganz gut bleiben kann in diesem Milieu, und niemand nur böse ist. Der Roman endet verhalten optimistisch, mit einer Dosis Skepsis, und mit einer durchaus überraschenden Auflösung der Krimihandlung.     

Insgesamt ein Roman, der neue Orte, Milieus, Fakten und Befindlichkeiten eröffnet, stilistisch souverän, unterhaltsam und tiefgängig zugleich ist.  Meine Empfehlung: Lesen!