Rezension

KURZ HUMORVOLL KRITISCH

Der Sommer meiner Mutter - Ulrich Woelk

Der Sommer meiner Mutter
von Ulrich Woelk

Bewertet mit 4 Sternen

Mochte ich. Manchmal ist kurz sehr wohltuend.

Wenn jemand über das Jahr 1969 schreibt, muss er nicht immer so tief einsteigen wie Frank Witzel, der Sieger des Deutschen Buchpreises 2015 mit seinem hervorragenden, aber auch ausufernden, achthundertseitigen Buch „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“.

Ulrich Woelk hat, da er weniger als 200 Seiten Lesematerial anbietet, in seinem Roman auf ein einziges Ereignis als zentrierendes Moment abgestellt: die Mondlandung 1969. Diese allerdings hat er (zu) ausgiebig zelebriert.

In dem Roman „Der Sommer meiner Mutter“ erwacht ein kleiner Junge aus seinem egozentrischen, bereits patriarchalischem Weltbild zu langsam. Anders als die Nachbarstochter Rosa, die einen schon weiteren Horizont mitbringt, bekommt er nichts mit von dem, was um ihn herum in den Menschen vorgeht. Er sieht weder die Überheblichkeit seines Vaters noch die familiären Bindungen seiner Verwandten, noch die autoritären, verlogenen Strukturen seiner Umwelt. Wie sollte er auch, er ist noch ein Kind. Doch dann gibt es eine familiäre Katastrophe, die seine heile Welt zerschlägt.

Diese Katastrophe ist meines Erachtens überzogen, aber es gilt die künstlerische Freiheit.

Ulrich Woelk trifft den Ton seiner Erzählzeit bestens. Mit wenigen Andeutungen kommt er aus, um zu zeichnen, wie feste und spießige Vorstellungen des Zusammenlebens besonders die Frauen in eine feste Rolle zwängten, aus denen nicht leicht auszusteigen war. Wir können uns heute kaum noch hineinversetzen in diese Zeit, die doch noch gar nicht lange her ist: wie jeder, der auch nur ansatzweise anders ist, per se schon verdächtig war, wie Ausgrenzung funktionierte und wie normal sie war. Jedenfalls in den etablierten Kreisen der Mittelschicht, von denen der Roman handelt. Nur einmal, in einer kurzen Skizze, läßt Woelk seine Spießer von 69 kurz aufgerüttelt werden durch die Teilnahme an einer politischen Demonstration.

Woelks leiser Humor zeichnet „Der Sommer meiner Mutter“ besonders aus. Woelk gibt allerdings dem Aufkeimen von Sexualität der beiden Kinder Rosa und Tobias zu viel Raum, die Schilderung von Doktorspielchen können schnell peinlich werden und etwas weniger Raumfahrt hätte auch genügt. Manche Protagonisten mit Potenzial bleiben dagegen ungenutzt im Raum stehen.

Fazit: Durchgängig durch die Kinderperspektive Tobias erzählt, gibt „Der Sommer meiner Mutter“ ein reizvolles und in seiner Kürze sogar kritisches Bild der Erzählzeit wieder. Trotz kleiner Schwächen durchaus ein Lesegenuß.

Kategorie: Anspruchsvoller Roman/Gute Unterhaltung
Auf der Longslist des Deutschen Buchpreises 2019
Verlag: C.H. Beck, 2019