Rezension

Kurze Geschichte einer verspäteten Liebe

The Girl on the Ferryboat - Angus Peter Campbell

The Girl on the Ferryboat
von Angus Peter Campbell

Bewertet mit 5 Sternen

Alexander (Alasdair) und das fremde Mädchen treffen auf der engen Treppe der Fähre nach Mull/Schottland aufeinander. Helen ist in einem Moment der Unaufmerksamkeit kurz zuvor ihre Geige gestohlen worden. Vielleicht hat sie deshalb keinen Blick für den jungen Mann, der von seinem Studienort auf dem Festland auf dem Weg zu seiner Heimatinsel ist. Die Wege der beiden trennen sich wieder, doch die Erinnerung an die kurze Begegnung lässt Alasdair nicht los. Helen reist weiter und lebt später ein erfülltes Leben als Entwicklungshelferin. Die Heimat zu verlassen auf der Suche nach Arbeit ist weder für Helen noch für Alasdair ungewöhnlich. Schon Helens Vater kam einst auf Arbeitssuche aus Irland. Alasdairs Schicksal wendet sich kurz darauf durch die Begegnung mit einer Fotografin von National Geographic, die ihn ermuntert, die Insel zu verlassen und ihn als Mäzenin tatkräftig fördert. Alasdair kann auf eine trotz bitterer Armut glückliche Kindheit zurückblicken. Sein Großvater fertigte in tagelanger Arbeit eine Angelrute für den Jungen an und lehrte ihn geduldig, gleichmäßig zu rudern. Der besondere Sommer am Ende seines Studiums wird Alasdair als Wendepunkt in Erinnerung bleiben, weil er gemeinsam mit Big Roderick ein Boot für einen anderen Alasdair baute. Für den älteren Alasdair und seine bretonische Frau muss das Fischen von diesem für sie persönlich konstruierten Boot das höchste Glück gewesen sein. Während der Arbeit mit Roderick zögert Alasdairr kurz, wie auf der Fähre, als ihm Zweifel kommen, ob seine Berufung fern von Mull liegen kann.

Wir begegnen Alasdair und Helen erst wieder, als beide rund 60 Jahre alt sind. Helen hat noch immer ihr Elternhaus auf der Insel, Alasdair kehrt zurück, um die Asche seiner verstorbenen Frau beizusetzen. Die Szene auf der Fähre wiederholt sich, das Paar erkennt sich wieder. Ohne Bitterkeit darüber, dass er sich damals falsch entschieden haben könnte, nimmt Alasdair sein neues Leben in der alten Heimat in Angriff.

Angus Peter Campbell wechselt in seinem kurzen, sehr gefühlvollen Roman immer wieder vom Englischen ins Gälische. Er lässt Alasdair über den Reichtum der gälischen Sprache sinnieren, mit der sich das Wetter, das Meer und die Welt der Schiffe so viel anschaulicher beschreiben lassen. Die englischen Begriffe Schiff und Boot reichen seiner Ansicht nach nicht aus, um die Vielfalt der Bootstypen zu beschreiben, mit denen man sich auf dem Meer und auf Schottlands Lochs fortbewegt. Mit Alasdairs Erinnerungen an die kargen Lebensbedingungen seiner Kindheit verknüpft Campbell anschaulich das Empfinden der Befriedigung durch handwerkliche Arbeit und stimmungsvolle Naturbeobachtungen. Durch Alasdairs versöhnlichen Blick auf seine Herkunft und seine Vergangenheit wird vermutlich jeder Leser individuell über seine eigenen Träume für sich und die Nachkommen und auch über die Macht des Zufalls nachdenken. "The Girl on the Ferryboat" als kurze Geschichte einer verspäteten Liebe war - völlig unerwartet - 2014 eines meiner Jahreshighligts durch seine Sprache und die Nähe eines persönlichen Schicksals zu gälischer Kultur, Musik und Mythologie.