Rezension

Leben bei jüdischen Extremisten.

Unorthodox - Deborah Feldman

Unorthodox
von Deborah Feldman

Bewertet mit 5 Sternen

Das Buch wird kontrovers besprochen. Kommt ganz drauf an, was man erwartet. Es ist nicht d a s spektakuläre Aussteigerbuch, aber es ist eines. Aber nicht nur. Der Roman zeigt hauptsächlich eine Lebensweise auf, von der viele nichts wissen oder wussten. Lesenswert!

Unaufgeregt, ohne auf den Putz zu hauen, berichtet die Autorin von ihrer Jugend bei den Satmarern, als sie bei einer besonders strikten jüdischen Denomination in Williamsburg, New York aufwächst, den Chassiden.

Sie lebt im Haus ihrer Grosseltern, dem Talmudgelehrten Zeidi und der Großmutter Fraida, die sie Bubby nennt, denn ihre Mutter wurde aus der chassidischen Gemeinde aufgrund derer sexuellen Neigungen ausgeschlossen, der Vater ist „ein besonderer Mensch“, eine Last, die Gott dessen Eltern auferlegte, mit anderen Worten psychisch krank. Auch er kann sich nicht um sie kümmern. Und keiner kümmert sich um ihn. Man soll nicht die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, sagen die Großeltern. Behandlung? Gott bewahre: Gott schickt die Prüfungen, wie er will, IHM pfuscht man nicht durch Eigenwillen ins Handwerk. Hier liegt der Hund begraben bei den Chassiden. Sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen, ist Gotteslästerung.

Deborah liebt ihre Großeltern sehr. Ihre Fesseln, die aus unzähligen beschränkenden Regeln bestehen, ein Mädchen darf dies nicht, ein Mädchen darf das nicht, sind trotz ihres wissbegierigen Geistes, nicht leicht abzustreifen, da sie den Großeltern keine Schande machen will. Liebe kann erpressbar machen! So lässt sie das Meiste über sich ergehen und schickt sich auch in die Ehe, die man früh für sie arrangiert.

Nun beginnt das Martyrium erst richtig. Hat man sie voher dazu angehalten, ihren Körper zu verleugnen, ihre Weiblichkeit zu negieren, soll ihr Lebenszweck plötzlich darin bestehen, das Sexualobjekt des auserkorenen jungen Mannes zu sein. Deborahs Körper rebelliert. Nach einem langen Leidensweg gelingt es ihr, die chassidische Gemeinde zu verlassen.

Ich liebe dieses Buch. Ich mag die schlichte Art der Erzählerin. Ich mag, wie sie ihr Viertel beschreibt, ihre Lebensumstände, ihre kleinen Fluchtpunkte. Ruhig, gelassen, lyrisch. Immer scheint die Liebe zu ihren Familienangehörigen durch, die sie fürchterlich nerven, sie ständig kontrollieren und ducken, ihre Liebe zu ihrer Lebensweise, trotz allem. Und ihre Anstrengungen, es richtig zu machen, sind besonders bedrückend in der Brautzeit, als die Reinigungsvorschriften im Prinzip nichts anderes sind als eine fortgesetzte Reihe von Demütigungen.

Sie ahnt, dass in der Art und Weise wie in der jüdischen Denomination der Glaube an Gott gelebt wird, die Regeln selber zum Status eines Gottes werden, das eigentliche heilige Wesen Gottes  rückt in die Ferne.

Wie anders kann man sich erklären als mit Heuchelei, dass ein heftiger, neiderfüllter Kampf um die Nachfolge des Gemeindevorstehers entbrennt?

Die Gemeinde arbeitet mit allen Mitteln, um sich von „der Welt“ zu isolieren. Der Horizont Deborahs wird jedoch durch die verbotenen „englischen Bücher“ geweitet. Immer wieder schleicht sie sich heimlich in die öffentliche Bibliothek. 

Aber die Großeltern haben den Holocaust überlebt, das ist ein starkes Argument. Sie brachten ihr bei, dass die Chassidim sich fügen müssen, sühnen, damit dasselbe nicht wieder passiert. Erschütternd ist die Angst der jüdischen Gemeinde nach dem Anschlag 9/11, weil sie befürchten, dass sie als Juden wieder als Sündenböcke herhalten müssen. Glücklicherweise ist es diesmal nicht der Fall.

"Unorthodox" ist ein Aussteigerbuch. Ganz klar. Aber keines der üblichen Sorte. Es ist ein Zeugnis der chassidischen Lebensart, einer jüdischen Sekte, die sich absondert und Öffentlichkeit meidet. Diese Gemeinde lebt mitten in New York und doch erkannte kaum einer, wie sehr gerade die Frauen die Lasten der vermeintlich göttlichen Regeln zu tragen haben.

Man muss sich für jüdisches Leben interessieren, um dieses Lebenszeugnis zu goutieren.

Fazit: In den USA wurde "Unorthodox" so oft verkauft, dass Deborah Feldman heute keine finanziellen Sorgen mehr hat. Sie lebt inzwischen in Berlin und kann endlich tun und lassen, was sie will.  Dafür hat sie aber auch einen hohen Preis bezahlen müssen.

P.S. Holpriger Erzählstil? Überhaupt nicht. Stellenweise sogar richtig lyrisch.

Kategorie: Autobiographie
Verlag, btb, 2017

Kommentare

Naibenak kommentierte am 28. Februar 2018 um 09:48

Wow, unbedingt will ich das auch lesen. Irgendwann... ;) Danke, Wanda!!! Toll geschrieben und mir schmackhaft gemacht!

Emswashed kommentierte am 28. Februar 2018 um 09:53

Volltreffer, liebe Wanda. Das ist mal wieder ein Buch, das ich jetzt und sofort haben muss, das mir aber ohne Deine Rezension durch die Lappen gegangen wäre!

Habe ich mich eigentlich schon dafür bedankt, dass Du mir Deine Freundschaft angeboten hast und ich Deine "Schandtaten" seitdem auf Schritt und Tritt verfogen darf?

wandagreen kommentierte am 28. Februar 2018 um 09:57

Oh, Ems, es ist mir doch eine Ehre, dass du sie angenommen hast.

Steve Kaminski kommentierte am 01. März 2018 um 09:21

EIne interessante Rezi, danke - gut geschrieben und aussagekräftig! Und das Buch scheint ja wirklich sehr lesenswert zu sein! Auf dem Umschlag klingt es ein wenig reißerisch, aber das Buch scheint ja sehr differenziert zu sein.

Es wäre interessant zu wissen, inwieweit das für Chassidim überhaupt gilt - da gibt es ja unterschiedliche Gruppierungen.

wandagreen kommentierte am 01. März 2018 um 09:32

Satmarer.