Rezension

Leben in einer Sekte

Kein Teil der Welt - Stefanie de Velasco

Kein Teil der Welt
von Stefanie de Velasco

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ich bin ein wenig sprachlos. Das passiert mir recht selten, und es liegt tatsächlich an diesem Roman. Nicht, weil er eine literarische Sensation wäre, nein, er ist gute Handarbeit, spannend an den richtigen Stellen und mit wenig Längen, sondern weil das zugrundeliegende Thema mich aufregt. Schon immer. Sprachlos bin ich deshalb, weil ich mich frage, ob ich hier wirklich das schreiben soll, was ich denke und ob ich gegebenenfalls mit den Reaktionen leben möchte.
"Kein Teil der Welt" ist ein Coming of age-Roman. Teenager entdecken die Welt und haben Teenager-Probleme. Erste Liebe, Distanzierung von elterlichen Regeln, das Übliche halt. Aber Esther und Sulamith gehören zu den Zeugen Jehovas, sie wachsen in einer Sekte auf, mit strengen Regeln, was erlaubt ist und was nicht. Erste Liebe ist nicht erlaubt, schon gar nicht mit einem "Weltjungen", einem Nichtgläubigen. Nun kann man sich ja aber selten aussuchen, in wen man sich verliebt und so mißachtet Sulamith die Regeln und öffnet damit die Büchse der Pandora.
Der Glaube ist immer ein schwieriges Thema. Denn Glauben ist nicht gleich Wissen, wird aber meistens so behandelt. Ich glaube auch, immer mehr je älter ich werde, woran, ist hier irrelevant. Woran ich nicht glaube, das sind Glaubensgemeinschaften, in welcher Form auch immer. Weil sie eben in großen Teilen Glauben als Wissen verkaufen, weil es häufig genug um "Wir gegen die Unwissenden" geht, um Missionierung und überlieferte Sagen, die Jahrhunderte alt sind, aber als Grundlage für unser heutiges Leben dienen sollen. Und weil es immer um Macht geht, die Macht anderen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Als Gegenwert gibt es dann Gemeinschaft und eventuell Geborgenheit.
Das ist bei den christlichen Kirchen nicht anders als bei den Zeugen Jehovas, nur nicht mehr so ausgeprägt.
Und es ist ein Denken, dass ich von der Wurzel her nicht nachvollziehen kann. Mein Nebenmensch darf doch bitte glauben, was er möchte, solange er damit niemanden verletzt, körperlich oder seelisch. Wer bin ich denn, ihm zu erzählen, dass mein Glauben richtig ist und seiner nicht? Regeln aufzustellen, die andere in ihrer Handlungsfreiheit eingrenzen und das nur aufgrund des Glaubens, finde ich seit jeher sehr fragwürdig.
Um auf das Buch zurückzukommen: bei den Zeugen Jehovas scheint die Unterscheidung von Auserwählten und der restlichen Welt sehr ausgeprägt zu sein. Ich kann das nicht beurteilen, weil ich mich damit noch nie beschäftigt habe, aber laut Roman ist der nichtgläubige Teil der Welt Satan ausgeliefert. Und wird am großen Tag der Entscheidung, Harmagedon, vernichtet, während die Gläubigen in ein nicht näher definiertes Paradies eingehen. Das Leben besteht also aus Regeln, Warten auf den großen Tag und Menschen fischen, also Ungläubige bekehren.
Dafür muß jeder Dienst leisten, etwa Zeitschriften verteilen oder an Haustüren klingeln. Zusätzlich gibt es regelmäßig Treffen, Schulungen, Bibelkreise. Das ganze Leben dreht sich nur um den Dienst an Jehova.
Parallel werden Kinder und Jugendliche mit der Außenwelt konfrontiert, sie sind eben auch schulpflichtig. Und weil ihre Eltern weder den Lehrplan beeinflußen können, noch die Pausenhofgespräche, entstehen naturgemäß Risse im Denkgefüge. Die einen kitten sie ganz schnell zu und die anderen möchten sehen, was dahinter liegt. Das birgt große Risiken, denn ein Ausschluß au der Gemeinschaft ist das mögliche Ende solcher Erkundungen. Und damit verlieren die Heranwachsenden scheinbar auf einen Schlag alles, was ihr Leben bisher geprägt hat, Familie und Freunde.
Das hat wenig mit Glauben zu tun, das sind Machtspiele zur "Kundenbindung".
Um dieses ganze Themengefüge dreht sich der Roman, geschrieben von einer Frau, die mit fünfzehn Jahren diesen Schritt gegangen ist, sie ist aus der Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Und selbst, wenn man Abzüge macht, wenn manches durch Zorn oder Verletzung überzeichnet dargestellt ist, so ist das, was bleibt, immer noch übergriffig genug.
Ein Einblick in eine Parallelgesellschaft, über die ich mir bisher wenig Gedanken gemacht habe. Durchaus lesenswert.