Rezension

Lehrreich, emotional und unterhaltsam

Und Marx stand still in Darwins Garten - Ilona Jerger

Und Marx stand still in Darwins Garten
von Ilona Jerger

Bewertet mit 5 Sternen

Der Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ von Ilona Jerger ist ein wundervoller Einblick in das Leben zweiter bedeutender Männer. Einfühlsam, aber ungeschönt lässt sie uns an einigen Wochen teilhaben. Mit Hilfe der erfundenen Figur Dr. Beckett diskutiert sie die Berührungspunkte und Widersprüche in den Theorien beider Wissenschaftler, während sie zugleich großen Wert auf menschliche Darstellung legt.

Marx und Darwin, was für eine interessante Kombination. Als Master der Politikwissenschaft ist mir natürlich Marx mehr als bekannt, ebenso wie wohl kein Schüler in diesem Land im Biologie-Unterricht um Darwin herum kommen kann. Grundlegendes Wissen über diese beiden Männer ist also durchaus vorhanden beim Leser, doch das, was Ilona Jerger hier schreibt, geht weit darüber hinaus.

Mit Hilfe der Figur des Dr. Beckett schafft sie ein Bindeglied zwischen zwei bedeutenden Persönlichkeiten, die sich in der realen Geschichte nie leibhaftig begegnet sind, auch wenn sie natürlich von der Existenz des anderen gewusst haben. Was hätten die beiden wohl zueinander zu sagen gehabt? Das Dinner im Hause Darwin, welches im Klappentext erwähnt wird, findet tatsächlich erst recht spät im Buch statt, und so unterhaltsam es auch ist, es ist nur eine kurze Szene, eher eine Anekdote. Meine Erwartungen in der Hinsicht wurden enttäuscht, doch in jedem anderen Aspekt hat dieser Roman meine Erwartungen übertroffen.

Der Schreibstil von Jerger ist eine überraschende Kombination aus plastischer, lebhafter Darstellung und subtiler, zurückhaltender Beobachtung. Sie schafft es mühelos, Marx und Darwin in all ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ohne dabei respektlos zu werden. Ich kannte Marx schon immer als aufbrausenden, nicht sonderlich feinen Herrn, doch die sanftmütige Seite von Darwin habe ich erst durch diesen Roman kennengelernt. Vom Temperament her könnten diese beiden Wissenschaftler unterschiedlicher kaum sein. Trotzdem spürt man, dass sie in ihrem Wissensdurst sehr ähnlich sind. Ein sehr interessanter Punkt für mich war dabei, dass Marx, der Geisteswissenschaftler, glaubt – oder zumindest vorgibt zu glauben – dass er die gesellschaftliche Welt entschlüsselt hat, während Darwin, der Naturwissenschaftler, stets vorsichtig, zweifelnd und zurückhaltend bleibt. Üblicherweise ist es die Naturwissenschaft, die für sich beansprucht, die Welt zu erklären, wie sie ist, während die Geisteswissenschaft auf jede Frage nur stets mit neuen Fragen antwortet und sich alles um das beste Argument, die beste Verknüpfung von Theorien und Ideen dreht. Doch Marx, wie er hier beschrieben wird, ist ein Kämpfer, der so fest an die Korrektheit seiner Thesen glaubt, dass er niemals aufhören kann zu kämpfen, während Darwin mit zunehmendem Wissen nur immer mehr spürt, wie unzulänglich ein einzelnes Leben, ein einzelner Verstand ist.

Da wir die beiden Männer aus den Augen eines Arztes präsentiert bekommen, dreht sich natürlich ein großer Teil des Romans um die verschiedensten Leiden dieser beiden. Sie sind alt und auf vielfältige Weise krank. Das Londoner Klima am Ende des 19. Jahrhunderts tut zudem keinem der beiden gut. Doch Beckett, als Verfechter neuerer medizinischer Methoden und in dem festen Glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischen und physischem Wohlergehen gibt, hilft, wo er kann. Er hört aufmerksam zu und sein scharfer Verstand erlaubt es ihm, Zusammenhänge zwischen Darwin und Marx zu sehen – und genau dort liegt die Stärke in diesem Roman.

Natürlich sind Marx und seine Anhänger begeistert davon, dass Darwin wissenschaftlich fundiert Gott abgeschafft hat. Ebenso natürlich muss Marx dessen These vom „survival of the fittest“ ablehnen, da sie suggeriert, dass es naturgegeben, richtig und notwendig ist, dass es Klassenunterschiede gibt. Auf der anderen Seite scheut Darwin nichts mehr, als politisch instrumentalisiert zu werden. Direkt zu Beginn plagt ihn ein Alptraum, dass Kirchenanhänger ihn ob seiner Veröffentlichungen verfolgen. Er will sich gar nicht mit der Kirche überwerfen, er kann nur nicht anders, als die Welt durch die Augen eines Naturwissenschaftlers sehen. Obwohl er sich anfangs dagegen sperrt, mit Beckett über Marx zu sprechen, ist sein Interesse doch geweckt, als der Arzt seine eigenhändig entwickelte These präsentiert: Marx, dessen Eltern ehemals Juden waren und der selbst von Hass auf Juden geprägt ist, lehnt die Kirche mit all seinem Wesen ab, schafft aber mit seinem Kommunismus eine eigene Religion nach jüdischem Vorbild: Statt der Juden sieht er die Arbeiter unterdrückt, statt den Ägyptern ist die Bourgeoisie der Feind und statt Moses ist Marx der Prophet, der das Volk befreit und ins Paradies, eine kommunistische Gesellschaft, führt.

Beckett ist begeistert von dieser Einsicht, insbesondere auch, weil er in der Entfremdung, über die Marx ständig spricht, einen direkten Bezug zu dessen Leben sieht: Die Juden sind in der Welt entfremdet, Marx ist seiner Familie entfremdet und er ist seiner Heimat entfremdet, weil er wegen seiner Veröffentlichungen politisches Asyl in England suchen musste. Diese Bezüge zwischen dem Judenhass und der Religionskritik bei Marx und seiner eigenen Biografie sind nicht neu, doch Jerger lässt Beckett dies in so schillernden Farben ausführen, dass man unwillkürlich selbst wissenschaftliche Erregung ob dieser neuen Erkenntnis verspürt. Es ist unmöglich, einen Autor ohne seinen biografischen Kontext zu interpretieren, auch wenn man es tunlichst vermeiden sollte, alles auf seine Lebensumstände zurückzuführen. Dass Jerger hier einen kurzen Moment im Leben von Marx so anschaulich darstellt und darin all das verdichtet, was Marx in seinem Leben erfahren hat, während sie gleichzeitig seinen fortwährenden Kampf mit seinem Körper, seinen Büchern und fremden Theorien beschreiben kann, ist eine Meisterleistung, vor der ich tiefen Respekt habe.

In einem Interview hat sie selbst gesagt, dass sie sich Darwin näher fühlt und das zeigt sich in dem Buch durchaus. Wir erfahren weit mehr über Darwin, erleben weit mehr auch aus seiner Vergangenheit. Trotzdem – vielleicht, weil ich Politikwissenschaftlerin bin? – empfand ich die von Marx ausgehenden politiktheoretischen Teile als deutlich spannender. Ich kann Darwins Begeisterung für Regenwürmer vielleicht verstehen, aber nicht nachempfinden. Dass er sich nicht politisch instrumentalisieren lassen will, ist ihm hoch anzurechnen, doch als Philosophin weiß ich nur zu genau, dass es unmöglich ist, fremde Theorien, die auch nur entfernt nützlich erscheinen, nicht in eigene Theorien einzubauen. Insofern bin ich Marx deutlich näher.

Das Buch ist ein biografischer Roman mit einem großen Schuss eigener Fantasie. Es geht hier nicht darum, einen Handlungsbogen zu entwickeln und über die bekannten Schritte zu einem spannenden Höhepunkt zu kommen. Dessen muss man sich als Leser bewusst sein, sonst wird man enttäuscht. Stattdessen erhalten wir auf sehr leichte, aber eingängige Weise politik- und naturwissenschaftliche Konzepte erklärt und lernen, dass auch große historische Persönlichkeiten von ganz menschlichen Zweifeln und Problemen geplagt werden. Ich war hingerissen von der Lektüre.

FAZIT:

Der Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ von Ilona Jerger ist ein wundervoller Einblick in das Leben zweiter bedeutender Männer. Einfühlsam, aber ungeschönt lässt sie uns an einigen Wochen teilhaben. Mit Hilfe der erfundenen Figur Dr. Beckett diskutiert sie die Berührungspunkte und Widersprüche in den Theorien beider Wissenschaftler, während sie zugleich großen Wert auf menschliche Darstellung legt. Das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt, ebenso wie es mich insbesondere während des im Klappentext erwähnten Dinner zu unkontrolliertem Lachen verführt hat. Ich kann jedem neugierigen Geist dieses Buch nur wärmstens empfehlen.