Rezension

Leider enttäuschend

Manhattan Beach - Jennifer Egan

Manhattan Beach
von Jennifer Egan

Bewertet mit 3 Sternen

Kaum eine Besprechung von Jennifer Egans lang ersehnten, neuen Roman „Manhattan Beach“ kommt ohne den Vergleich mit ihrem 2011 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten „Der größere Teil der Welt“ aus. Dieser hatte eine tolle Geschichte, war formal sehr experimentell gestaltet und dennoch ungemein lesbar und unterhaltend – ein Geniestreich, der sogleich zu einem der bedeutendsten Romane des beginnenden 21. Jahrhunderts ernannt wurde.
Nachfolgende Werke werden wohl immer an diesem Buch gemessen werden. Dennoch gelang es Jennifer Egan 2013 mit „Black Box“ erneut zu überraschen und auch zu überzeugen. Dies war ein „Twitter-Roman“, bestehend aus Abschnitten mit maximal 140 Zeichen, der einen spannenden Thriller-Plot lieferte. Innovativ und trotzdem gut konsumierbar.
Mit „Manhattan Beach“ hat Egan nun einen anderen Weg eingeschlagen. Der mit über 500 Seiten in großer epischer Breite erzählte Roman kommt völlig konventionell daher. Und auch wenn nicht nur ich ziemlich enttäuscht davon bin, hat die Autorin diesen Weg gezielt eingeschlagen und verfolgt und ist sicher kein Zeichen von nachlassender Schaffenskraft oder Kunstfertigkeit.
Die Geschichte begleitet Jennifer Egan schon seit sehr langer Zeit, wie sie im Gespräch mit Hans-Jürgen Balmes im Literaturhaus Frankfurt berichtet. Seit mehr als zehn Jahren trägt sie das Brooklyn Navy Yard und Manhattan Beach auf Coney Island als Schauplätze mit sich herum, ist beeindruckt von der oft vergessenen Nähe New Yorks zum Atlantischen Ozean. Dazu kam die Absicht, über New York im Zweiten Weltkrieg zu schreiben und dies vielleicht auch zu den Ereignissen von 9/11 in Beziehung zu setzen. Eine Stadt im Krieg.
Erst als zweites, erzählt Egan, kamen ihr dann die Protagonisten in den Sinn. Da ist zunächst Anna Kerrigan, die wir zu Beginn im Jahr 1934 als Zehnjährige kennenlernen. In der Eröffnungsszene begegnen wir auch den beiden anderen Hauptpersonen, ihrem Vater Eddie, den die Weltwirtschaftskrise ruiniert hat und der nun bei Dexter Styles, einem durch die Prohibition zu viel Geld gekommenen Unterweltboss, Besitzer von Clubs und viel Einfluss, anheuern will.
Nach diesem Prolog springt die Geschichte in die Zeit nach Pearl Harbor und dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Eddie Kerrigan ist seit mehreren Jahren spurlos verschwunden. Anna und ihre Mutter müssen für sich selbst und die schwerbehinderte Schwester Lydia aufkommen. Da immer mehr Männer in den Krieg ziehen, bietet sich für junge Frauen wie Anna die Möglichkeit, in ihnen bisher verschlossene Berufszweige einzusteigen. Sie bekommt Arbeit im Brooklyn Navy Yard, der Schiffswerft im New Yorker Hafen, die für die US Navy Schiffe baute und 1943 fast 69.000 Menschen beschäftigte, darunter viele Frauen, auch in untypischen Berufen wie Schweißerin oder Mechanikerin. Man kann sich vorstellen, wie schwer diese Frauen es sicher gegen die männlichen Kollegen hatten, die ihre angestammten Bastionen nicht gerne räumten. Nach dem Krieg, in den „heimeligen“ Fünfziger Jahren, mussten die Frauen diese Jobs auch fast komplett wieder räumen und sich wieder ins Heim oder Frauenberufe wie Sekretärin zurückziehen. Die Zeit des Krieges also als eine Zeit der Emanzipation ist ein Aspekt um den es Jennifer Egan geht. 
Anna nimmt nach einer Zeit als Arbeiterin an einer Ausbildung zur Marinetaucherin teil. Eine solche gab es wohl in der Realität zu dieser Zeit noch nicht. Jennifer Egan sprach für ihre Recherchen allerdings mit Andrea Motley Crabtree, der ersten US-Army Tiefseetaucherin, die aber erst ab 1982 im Dienst war. Bei ihren intensiven Nachforschungen sprach sie zudem mit vielen Zeitzeugen und hatte auch die Gelegenheit, einen zeitgenössischen Tauchanzug anzuprobieren, 100 Kilo schwer. Anna beißt sich durch die körperlichen Strapazen genauso durch wie durch die Anfeindungen, die sie erfährt. Mit ihr haben wir eine Protagonistin, wie sie beim großen Lesepublikum gut ankommt: eigensinnig, aufopferungsvoll ihrer Familie gegenüber, besonders gegenüber ihrer behinderten Schwester, voller Träume und Pläne, zielstrebig, leidenschaftlich. Ihre Emanzipationsgeschichte bildet den einen Hauptstrang der Geschichte. 
Der zweite dreht sich um ihren verschwundenen Vater. Niemand hat je nachgeforscht, was mit ihm geschehen ist. Angedeutet wird, dass er die Last der „verkrüppelten“ Tochter nicht länger ertragen konnte. So ganz überzeugt das nicht. Dass er in Gangsterkreise geraten und dort einen Fehler gemacht hat, wird mehrfach angedeutet. Seine Geschichte, die zum Schluss eine ungeheure Wendung nimmt, hat mich leider gar nicht überzeugt. Um nicht zu viel zu spoilern, möchte ich von dieser Wendung nicht erzählen, nur so viel, dass sie noch einmal einen völlig neuen Erzählstrang beifügt, der für mich ziemlich unpassend wirkt.
Für Jennifer Egan sind diese Vater-Leerstellen in ihren Büchern von besonderer Bedeutung. Sie selbst stammt aus einer sogenannten dysfunktionalen Familie irisch-amerikanischer Abstammung. Ganz dem Klischee entsprechend waren die Familienmitglieder wohl dem Alkohol sehr zugeneigt. Ein Bruder ihres Vaters verunglückte alkoholisiert mit dem Motorrad bei einer Spritztour während einer Familienfeier. Ein tragisches Ereignis, das ihren Vater noch mehr zum Alkohol trieb. Als Jennifer Egan zwei Jahre alt war, wurde die Ehe ihrer Eltern annulliert und sie lebte fortan weit fort vom Vater in Kalifornien. Mit sechzig Jahren kam er selbst bei einem Unfall ums Leben. Der fehlende Vater, der dennoch ein fernes Sehnsuchtsbild darstellt, ist von daher ein Motiv, das in Egans eigenem Leben verankert ist.
Als dritter Strang ist da dann noch die Gangstergeschichte um Dexter Styles, den die erwachsene Anna wiedertrifft. Die beiden ziehen sich magisch an, aber tun sich gegenseitig natürlich nicht gut. Aufstieg und Fall von Dexter Styles, dieser Blick in die Gangsterwelt, die durch Prohibition reich und mächtig gewordenen Mafiaclans, ist Kolportage pur. Wie die Geschichte überhaupt vollgestopft mit Klischees und Versatzstücken ist. Beim amerikanischen Publikum kam das sehr gut an. Hymnische Besprechungen in der amerikanischen Presse, Bestsellerauflagen, Rechte in 23 Länder verkauft.
„Manhattan Beach“ hat alles, was ein „großer“, episch erzählter amerikanischer Roman zu brauchen scheint. Einzelne Passagen darin beweisen, dass Jennifer Egan immer noch eine großartige Schriftstellerin ist. Besonders Annas Geschichte und die Schilderungen rund um Manhattans Seeseite, die Atmosphäre im Navy Yard der Kriegszeit sind durchaus gut gelungen, Egan kann eindeutig wunderbar schreiben. Lässt man mal alle Erwartungen, die man als Bewunderin der innovativen, experimentellen Autorin hat, beiseite und möchte lediglich einen Pageturner zum „Mitfühlen- und fiebern“, dann ist „Manhattan Beach“ vielleicht das richtige Buch. 
Für alle anderen, die „Der größere Teil der Welt“, „Black Box“ oder „Look at me“ lieben, bleibt zu hoffen, dass sich Jennifer Egan beim nächsten Buch nicht so sehr auf ihren „Reading Club“ verlässt. Letzterer hat ihr zu der extrem konventionellen Erzählart geraten, die für Jennifer Egan eigentlich so untypisch ist. Wie sie erzählt, hätten andere Erzählansätze bei ihren Zuhörern mit diesem historischen Stoff nicht funktioniert. 
So entstand eine geradeaus erzählte, zudem viel zu viel auf einmal anpackende und mit vielen bloßen Versatzstücken angehäufte Geschichte. Das interessante Setting und die spannenden Themen hätten viel mehr hergegeben.