Rezension

Leise, melancholisch, sehr, sehr kalt

An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts - Roland Schimmelpfennig

An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
von Roland Schimmelpfennig

Bewertet mit 5 Sternen

Viele kleine Geschichten über ganz verschiedene Menschen - richtig schön!

Roland Schimmelpfennig, der meistgespielteste Gegenwartsdramaturg an deutschen Theatern – soso...

Noch nie was gehört von dem Mann, muss ich zu meiner Schande gestehen.

Der Titel klingt schön, das Cover ist schön (die Luftaufnahme von Berlin im Winter). Warum nicht mal dieses Buch ausprobieren? Noch dazu, weil mir der Winter dieses Jahr sehr, sehr gefehlt hat.

Und was kann ich sagen? Das Buch bescherte mir ein erstes Lesehighlight im Jahr 2016!

Das Buch spielt in einem extrem kalten Winter Anfang der 2000-er Jahre. Wochenlang eisige Kälte und Schnee. Über die zugefrorene Oder gelangt ein Wolf aus Polen nach Deutschland und wandert in Richtung Berlin. Das Buch erzählt die Geschichten der Menschen, die diesem Wolf begegnen werden.

Es sind allesamt „einsame Wölfe“, die dieser Roman beschreibt, Menschen, die verloren sind, Menschen, die abhauen wollen, Menschen, die keinen Sinn mehr im Leben sehen:

ein Teenager-Pärchen, das aus dem heimischen Dorf an der deutsch-polnischen Grenze türmt, um nach Berlin zu trampen.

Dann lernen wir die unterschiedlichen Eltern der Kinder kennen: die Mutter des Mädchens, eine gescheiterte Künstlerin, die ihr Kind schlug; der Vater des Jungen, der sich fast zu Tode säuft.

Dann, ganz woanders, mitten im Stau auf der Autobahn, ein polnischer Bauarbeiter, der im fremden Land mit niemandem mehr reden kann, auch mit seiner Freundin nicht.

Es sind zahlreiche, kurze Szenen, die Schimmelpfennig skizziert. Manchmal treffen sich die Handlungsstränge, häufiger verfehlen sie sich haarscharf.

Worauf das alles zusteuert, weiß man nicht so genau beim Lesen – wird das Ganze überhaupt auf irgendwas zusteuern? - aber man ahnt: gut wird das definitiv nicht enden, man fürchtet stets das Schlimmste für die Figuren.

Schimmelpfennigs Sprache ist reduziert, nüchtern und kalt. Kaum mal ein Nebensatz. Dafür viele Dialoge.

Manchmal fühlte ich mich an Cormac McCarthy erinnert – nur ohne die exzessiven Gewaltausbrüche.

Ein sehr leiser, sehr melancholischer Roman. Mich würde es nicht wundern, wenn jemand ihn fürs Kino adoptiert, um aus ihm eine Art deutsches „Short Cuts“ zu machen.

Und wenn bei mir in der Nähe ein Stück von Schimmelpfennig im Theater läuft, werde ich auf jeden Fall hingehen! Ich bin gespannt, was dieser Autor noch so drauf hat!