Rezension

Leseerlebnis und Leseherausforderung zugleich: Ein brillant konzipierter Roman

Ruhm - Daniel Kehlmann

Ruhm
von Daniel Kehlmann

Bewertet mit 5 Sternen

Daniel Kehlmanns Romane sind ein Leseerlebnis, aber zugleich auch eine Leseherausforderung. Ich muss gestehen, dass ich mich zuerst gar nicht an seine Werke herangetraut habe, weil man ihn als experimentellen Schriftsteller bezeichnet und sich mir experimentelle Literatur einfach nicht erschließt. Ich finde hier keinen Zugang und werde als Leser auch ungern involviert bzw. direkt angesprochen. Aber am Ende hat meine Neugier gesiegt, und ich wollte einfach noch mal einen letzten Versuch wagen. Gut, dass ich es getan habe, denn Daniel Kehlmanns Roman Ruhm ist schlicht brillant.

Auf Entdeckungsreise in einem einzigartigen Roman

Der Roman besteht aus neun Geschichten, die alle völlig unterschiedlich, aber auf sehr kluge Weise miteinander verwoben sind. Ich habe die Geschichten drei Mal gelesen und immer wieder neue Details entdeckt, die mir vorher gar nicht aufgefallen waren. Zu meiner Überraschung hat mir diese Entdeckungsreise großen Spaß gemacht, und ich möchte euch daher dieses Buch wirklich wärmstens empfehlen.

Ein verschmelzendes Mosaik von Identitäten

1. Stimmen

Die erste Geschichte handelt von IT-Techniker Ebling, der im Grunde seines Herzens ein Technik-Gegner ist. Er hat noch nicht mal ein Handy, denn in seinen Augen sind sie aufgrund ihrer Strahlung einfach nur schädlich. Doch schließlich lässt er sich doch zum Kauf eines Smartphones überreden, nicht ahnend, dass dies seine Welt völlig auf den Kopf stellen wird. Die Anrufe, die auf seinem Handy eingehen, sind nicht für ihn - alle Anrufer fragen nach einem gewissen Ralf, der ziemlich wichtig und viele Frauen zu kennen scheint. Zunächst ist Ebling äußerst irritiert, doch dann nimmt er die Rolle des ihm unbekannten Ralf an und findet auch noch Spaß daran. Doch dieses Spiel ist nicht so harmlos, wie es scheint...

Ein Stück vom Ruhm

Der Aufbau der Geschichte scheint simpel, ist aber sehr vielschichtig. Das Phänomen, das Kehlmann hier beschreibt, kennen wir seit dem Internet: In der Anonymität gehen wir aus uns heraus, denn wir haben nichts zu verlieren, können nicht versagen, uns nicht lächerlich machen. Der nichtssagende und kommunikationsarme Ebling kann am Handy alles sein: Frauenheld oder erfolgreicher Geschäftsmann. Die Rolle des Fremden anzunehmen, macht sein eigenes Leben zu einem Abenteuer. Eine sehr klug konzipierte Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe.

2. In Gefahr

Die Hauptfigur dieser Geschichte ist der überängstliche Schriftsteller Leo Richter, der mit seinen ausgefallenen Erzählungen über die Ärztin Lara Gaspard oder die alte Dame Rosalie sehr erfolgreich geworden ist. Seine Lebensgefährtin Elisabeth, die sehr engagiert bei Ärzte ohne Grenzen ist, begleitet Leo zu einer Lesereise nach Lateinamerika, als sie erfährt, dass drei ihrer Kollegen entführt wurden. Leo kämpft mit seinen eigenen Problemen: Er hasst Lesereisen und das ganze Drumherum und entschließt sich, seine Kollegin, die Krimiautorin Maria Rubinstein, zu bitten, eine andere Lesereise nach Zentralasien für ihn zu übernehmen.

Der egomanische Künstler

Selten hat mich ein Protagonist so unglaublich genervt wie Schriftsteller Leo Richter. Kehhlmann hat ihn brillant gezeichnet - ein lebensängstlicher Künstler und Egomane, der seinem Umfeld und vor allem seiner Partnerin sehr viel abverlangt, denn in seiner Welt zählt nur er. Richters Art, sich mitzuteilen, hat Kehlmann sprachlich exzellent umgesetzt. Als Freundin Elisabeth schließlich der Kragen platzt und sie ihm in aller Deutlichkeit ihre Meinung sagt, spricht sie dem Leser aus der Seele. Eine sehr gelungene Story.

3. Rosalie geht sterben

Die alte Dame Rosalie, eine ehemalige Lehrerin, die unheilbar an Krebs erkrankt ist, entschließt sich, in der Schweiz mittels Sterbehilfe ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch Rosalie, eine Figur aus Leo Richters Geschichte, ist nicht gewillt, sich dem Schicksal, dass der Autor sich für sie erdacht hat, zu ergeben und versucht mit allen Mitteln, ihn von einem anderen Verlauf der Geschichte zu überzeugen. 

Ungewöhnlicher Dialog zwischen Protagonistin und Autor

Die Geschichte hat mich anfangs irritiert, denn ich konnte zunächst nicht nachvollziehen, dass Rosalie als fiktive Figur zu Autor Leo Richter spricht, nachdem die Geschichte im "normalen" Erzählmodus begonnen hatte. Doch Kehlmann gelingt dieser Übergang wirklich gut, so dass ich diese bizarre Geschichte am Ende gut konstruiert fand.

4. Der Ausweg

Ralf Tanner, berühmter, aber nunmehr ziemlich abgehalfterter Schauspieler, ist von seinem Leben angewidert, seine öffentliche Identität macht ihm schwer zu schaffen. So nimmt er eines Tages an einem Imitatorenwettbewerb teil und tritt als sein eigenes Double auf - dies zu seiner großen Überraschung jedoch nur mit mäßigem Erfolg, denn ein anderer Teilnehmer wird vom Publikum als um Längen besser eingestuft. Niemand erkennt Tanner als den, der er ist, doch das stört ihn noch nicht mal, im Gegenteil: Ihm gefällt die Anonymität. Das Einzige, das ihn irritiert, ist, dass sein Handy nicht mehr zu funktionieren scheint, denn es kommen keine Anrufe mehr für ihn an. Tanner, der eine Villa nebst Butler hat, mietet sich unter dem Namen Matthias Wagner ein kleines Zimmer in einem unbedeutenden Stadtteil. Doch sein Spiel wird ernst, als er bemerkt, dass sein Double seine Rolle und damit auch sein Leben übernommen hat...

Kein Weg zurück

Dies ist für mich eine der besten Geschichten der Romans, denn sie zeigt, wie Berühmtheit und Öffentlichkeit an Menschen zehren, wie sie aufbauen und vernichten. Sie macht deutlich, wie Menschen ihre Identität durch ihr selbst konzipiertes Image, dem sie nie gerecht werden können, Stück für Stück verlieren. Auch zeigt sie auf bizarre Weise, dass es hier keinen Weg zurück gibt.

5. Osten

Krimiautorin Maria Rubinstein, Leo Richters Kollegin, nimmt die Lesereise nach Zentralasien für ihn wahr. Sie absolviert das strenge und ermüdende Einladungsprogramm, bis sie plötzlich von der Reisegruppe vergessen, isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten wird. Ihr Handy hat keinen Empfang, und so muss sie ums Überleben in einer ihr fremden Welt kämpfen, in der sie niemand kennt... 

Das mysteriöse Verschwinden einer Krimiautorin

Diese Geschichte ist beklemmend und klaustrophobisch. Kehlmann erzeugt mit seiner ganz speziellen Erzählweise eine bedrohlich-beängstigende Atmosphäre. Maria Rubinsteins ungutes Gefühl und später ihre Angst, Panik und Resignation gehen seltsamerweise wie von selbst auf den Leser über. Hier hätte ich gerne noch weitergelesen, das Ende war mir etwas zu abrupt.

6. Antwort an die Äbtissin

Der in Rio lebende Miguel Auristos Blancos, der mit "Erbauungsbüchern" über den Lebenssinn, das Glück etc. zum erfolgreichen Bestsellerautor wurde, erhält einen Leserbrief der Äbtissin des Karmeliterinnenklosters, die von ihm wissen möchte, warum es seines Erachtens das Leiden, den Schmerz und die Einsamkeit gibt. Der Autor fühlt sich durch diesen Brief belästigt und schreibt zurück. Doch diese Antwort entspricht seltsamerweise so gar nicht dem Credo seiner Bücher, sondern offenbart sein wahres Ich und seine Lebensphilosophie, die seine Leser schockieren würde...

Ein Autor entlarvt sich selbst

Dies ist die zweite Geschichte, die mir außerordentlich gut gefallen hat. Kehlmann entlarvt den angeblich so weisen Bestsellerautor, der so anregend über Glück und den Sinn des Lebens schreiben kann, als lebensmüden und desillusionierten Waffennarren, der seine Gutmensch-Maske in seiner Antwort an die Äbtissin fallenlässt, ohne zu wissen, warum er es tut. Großartig erzählt, sehr lebenserfahren und klug.

7. Ein Beitrag zur Debatte

Mollwitz, Mitarbeiter eines Mobilfunkunternehmens, surft jede freie Minute auf einem Prominentenspotforum im Internet - auch auf der Arbeit. Weil kein anderer Kollege verfügbar ist, bittet ihn sein Chef, auf einer Konferenz einen Vortrag zu halten. Dort trifft Mollwitz auch Leo Richter, der ihn aber "abserviert" bzw. gänzlich ignoriert. Mollwitz, der in einer Parallelwelt lebt, ist verliebt in Richters Romanfigur Lara Gaspard. Sein Vortrag endet in einem Desaster, und so macht er sich auf die Suche nach Leo Richter, den Erfinder seiner Traumfrau. Als er ihn jedoch nicht antrifft, verliert er völlig die Nerven... 

Gewöhnungsbedürftig und sprachvirtuos

Dies ist für mich die wohl gewöhnungsbedürftigste Geschichte des Romans. Brillant erzählt in der angeblich coolen mit vielen englischen Begriffen gespickten Jugendsprache. Und trotzdem fand ich sie richtig gut. Man muss sich allerdings hierauf einlassen und sollte die Geschichte schon ein zweites Mal lesen. Ob man die Story nun mag oder nicht - eines ist unbestritten: Kehlmann ist ein Sprachvirtuose.

8. Wie ich log und starb

Mollwitz' Chef, Abteilungsleiter bei o.g. Mobilfunkunternehmen, ist mit Hannah verheiratet und Vater zweier Kinder, als er Luzia kennenlernt, die schnell seine Geliebte wird. Doch sein Doppelleben gestaltet sich immer schwieriger, er verliert die Balance. Seine Rollen als Ehemann und Geliebter verschwimmen. Und da er mit den Gedanken immer weniger bei der Arbeit ist, kommt es zu einer Doppelvergabe von Telefonnummern, die fatale Folgen hat...

Schlüsselstory über ein verwirrendes Doppelleben

Eine weitere, sehr gelungene Geschichte, die das Doppelleben eines Mannes mit Ehefrau und Geliebter aus seiner Sicht beschreibt. Sie ist gleichzeitig die Schlüsselstory, mit der sich Geschichte 1 erklärt.  

9. In Gefahr

Schriftsteller Leo Richter und Freudin Elisabeth nehmen an einer humanitären Aktion in Afrika teilt, doch etwas scheint nicht zu stimmen. Richter ist auf einmal mutig, ein echter Beschützer. Eilsabeth kann es nicht glauben. Und sie merkt schnell. dass sie Recht hat. Leo macht einen entscheidenen Fehler und sie erkennt, dass sie und Leo nur Figuren in einer von ihm erdachten Geschichte sind. Ein totales No-Go für Elisabeth, die Leo immer wieder gebeten hatte, sie niemals zu einer seiner Protagonistinnen zu machen.

Geschichte in der Geschichte

Die Geschichte trägt den gleichen Titel wie Geschichte 2 - und doch ist sie völlig anders. Als Leser wird man - genau wie Elisabeth - schnell misstrauisch, denn Leo Richter ist nicht er selbst. Auch hier musste ich mich erst zurechtfinden, aber Kehlmanns Erzählfluss kann man gut folgen.

Das Phänomen Ruhm, Identitäten und die Übermacht der Technik

Die Geschichten haben alle Bezug zueinander, den der Leser nach und nach entdeckt. Drei Themen ziehen sich jedoch wie ein roter Faden durch die Erzählungen. Zum einen Ruhm, der auch Titel des Romans und zumeist negativ belegt ist, denn er verändert oder verbirgt die Persönlichkeit der Menschen. Zum anderen Identitäten, mit denen Kehlmann ein verwirrendes Spiel treibt. Und zuletzt die Übermacht der Technik: Kehlmann zeigt eine Welt, in der "kein Empfang" auf dem Handy gleichbedeutend mit existentieller Katastrophe ist. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass der Roman für mich ein Must Read ist, denn Kehlmann ist nicht nur ein Meister der Sprache, sondern auch ein aufmerksamer Menschenbeobachter, dessen Porträts stimmig sind und ins Schwarze treffen.