Rezension

Lesehighlight mit ungewöhnlicher Schreibe & faszinierender Tiefe!

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
von David Whitehouse

Immer wenn die letzten Worte eines Buches gelesen sind, das Zuklappen des Buchrückens ein letztes Mal den Schatz aus Worten in sich einschließt, ist es wieder da – dieses Gefühl. Eine Reise ist beendet, obwohl man doch so gerne noch viel, viel weiter gegangen wäre. Ich kann diese Zeilen nicht loslassen, ich möchte diese Zeilen nicht loslassen.

Mein Geist verharrt noch immer mitten im Geschehen – dort, an jener Küste in England, wo mein gemeinsamer Weg mit David Whitehouse begann und wo sie heute endete. »Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek« aus dem Tropen Verlag gehört zu der Sorte Bücher, welche noch lange nach diesem Gefühl im Gedächtnis haften bleiben. Kommt euch das bekannt vor? Dann lasst mich euch mit auf eine Reise zurück in dieses Buch nehmen.

Wer ist David Whitehouse?

David Whitehouse wird auf “Der Insel” als neuer Jungstar der Literatur gefeiert, »Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek« ist seine erste Veröffentlichung in Deutschland, jedoch nicht sein erster Titel. Mit seinem Debüt »Bed« katapultierte sich der Brite, der auch als Drehbuchautor für Kurzfilme tätig ist, in relativ kurzer Zeit in die jubelnden Arme der Literaturwelt Englands und kassierte dafür 2010 den »To Hell with Prizes Award«. Die Filmrechte für »Bed« wurden ebenfalls bereits verkauft. Ich bin gespannt, ob nun sein Erstlingswerk auch auf Deutsch übersetzt wird und winke mal mit dem Zaunpfahl in Richtung Klett-Cotta.

Aufsehen erregte der junge Autor, der u.a. für die Times und The Guardian geschrieben hat und dafür mehrfach ausgezeichnet wurde, auch mit seiner Buchtour durch England. In einem Bett sitzend las er vor neugierigem Publikum aus seinem Debüt. Für »Mobile Library« startete der Verlag gemeinsam mit dem Autor in Deutschland eine außergewöhnliche Lesereise: In einem roten Oxfordbus mit dazu passendem Fahrer begab sich der Brite auf Tour durch das Land. Eine grandiose Idee!

»Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek« ist ein außergewöhnliches Buch, das mich sehr überrascht hat. Es trägt eine ganz einfache Botschaft mit sich, die in eine ungewöhnliche Geschichte verpackt wurde.

Familie ist dort, wo man sie findet. Eine Familie muss nicht aus einem Vater, einer Mutter, einem Sohn und einer Tochter bestehen. Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt. – Seite 282

Der Klappentext wirbt mit einer tragikomischen “Abenteuergeschichte über die unbeirrbare Suche nach dem Glück und den Zauber der Literatur“. Dem kann ich mich nur in einem einzigen Punkt nicht anschließen, denn als komisch empfand ich den Roman eher nicht. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich keine Britin bin, aber für mich ist es ein realistisches, oft trauriges und erschreckendes – aber keineswegs schwermütiges Buch. Ein Buch, das nur so vor zitierfähigen Satzperlen strotzt. Würde man mein mit bunten Stickynotes gepflasterten Buchschnitt in den Zeugenstand laden – er würde meine Aussage bestätigen.

Intensive Charakterzeichnung

Der junge Protagonist ist ein vom familiären Schicksal gebeutelter Charakter, der mir sehr leid getan hat. Gleichzeitig habe ich ihn aber auch unheimlich bewundert. Trotz unerbittlicher Härte und Gewalt, die ihm sein versoffener Vater entgegenbringt, hat er sich zu einer starken Persönlichkeit entwickelt, deren verletzliche Seele allerdings tiefe emotionale Risse zu kitten hat. Liebe ist ein Fremdwort für den stets alkoholisierten Rohling, väterliche Umarmungen gar ein Gräuel. Natürlich hinterlässt das Spuren in diesem jungen Menschen, der seine Mutter so unendlich vermisst. Aus fester Überzeugung, sie bald wiedersehen zu können, verbirgt er ein Archiv voller Erinnerungen an sie in seinem Schrank: Duftproben, Kleidungsstücke, sogar Haare finden einen Platz in seiner Sammlung. Erinnerungsfetzen, die er seiner Mutter zeigen möchte, um sie an seinem Leben, welches sie bis dahin verpasst haben wird, teil haben zu lassen.

Metaphern sind sein Ding

Die Story hat mich erschüttert, zutiefst bewegt und dann nachdenklich zurückgelassen. Stellenweise zog ich scharf den Atem ein oder schlug die Hand vor den Mund, war jedoch gleichzeitig so gefesselt von der Geschichte, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen wollte. Ich neigte dann meinen Kopf zur Seite und las schräg, damit mich die Wucht der Szenen nicht so hart treffen würde. Oft wäre ich am liebsten in das Buch hinein gekrochen, um den jungen Mann einfach nur fest an mich zu drücken und ihm mitzuteilen, dass er nicht allein ist. An anderen Stellen erschreckte mich sein skurriles Verhalten.

Während ich mich etwa 100 Seiten lang erst einmal in den Stoff einlesen musste, gefiel mir der Roman von Seite zu Seite besser. David Whitehouse schmückt mit seinen Worten nicht nur aus, er dekoriert mit ihnen. Der Mann liebt den Einsatz von Adjektiven und blumigen Metaphern wie kein Zweiter, daran muss man sich wirklich erst einmal gewöhnen. Würde ein Debütautor ein solches Manuskript einreichen, die zuständige Lektorin hätte wohl umgehend ein Dutzend Rotstifte neu bestellt. Doch eben dieser ganz eigene Stil harmoniert perfekt mit einer wie aus dem Leben gegriffenen Geschichte sowie tiefgründigen und wahnsinnig sympathischen Figuren.

Die Puzzleteile finden zusammen

David Whitehouse hat eine einzigartige, beinahe poetische Schreibe, die mich wirklich fasziniert hat. Duhast als Leser das Gefühl, als wärst du Teil dieser Geschichte, als würdest du selbst in diesem Bücherbus sitzen und über holprige englische Straßen, durch tiefgrüne Wälder und kleine verschlafene Orte brausen, immer mit der Angst im Nacken, erwischt zu werden. Dabei entfalten sich vor deinem inneren Auge unglaublich farbenfrohe Bilder, getragen von diesem gewöhnungsbedürftigen Sprachduktus.

Die Bücher hinten in der Bibliothek – das waren alles Dinge, die sie selbst erlebt hatte, Orte, zu denen sie gereist war, Menschen, die sie getroffen hatte. Und dasselbe galt für sie alle. Die Bibliothek hatte ihre Geschenke in sie hineingepflanzt. Wörter. Mikroskopisch kleine, feinste Spuren menschlicher Erfahrungen, die ihnen für immer ins Blut übergegangen waren. In jede Entscheidung, die sie von nun an trafen, würden das Wissen und die Erfahrung tausender Romanfiguren einfließen, deren Leben in den vier Wänden der Bibliothek enthalten waren. – Seite 301

Oft fühlte es sich an, als wäre ich selbst geschrumpft und würde Bobbys Leben und Alltag direkt auf seiner Augenhöhe betrachten. Es ist schon eine kleine Kunst, solch ein intensives Empfinden beim Leser auszulösen. Whitehouse verbindet das Thema Freundschaft, Familie und Liebe zur Literatur zu einem rundherum gelungenen Puzzle, dessen einzelne Teile sich vor meinen Augen nach und nach zusammenfügten, während ich manche Teile selbst an seinen Platz legen musste.

Hoffnung ist eine Konstante, ein Seelenlotsenlicht. Es flackert nie. Es geht nie aus. Und auch wenn sie es vielleicht nicht wissen, so wärmen sich die Menschen doch jeden Tag ihre Hände daran. – Seite 101

Dieses Gesamtpaket sorgt für ein äußerst intensives Leseerlebnis, das mich unaufhaltsam und unbarmherzig mitgerissen hat. Unglaublich, wie einfühlsam der junge Brite den Blickwinkel seines Protagonisten beschreibt. Ich hatte das Gefühl, als ob sich Bobby in einem schockähnlichen Zustand befindet und erst auf den letzten Seiten des Buches im Stande ist, aus seiner Schutzblase in die Realität zurückzukehren – und zu verstehen, was eigentlich um ihn herum geschehen ist. Mittels Rückblenden – auch wieder etwas, das viele Autoren eher meiden – hat der Brite diesen Prozess des Erkennens geschickt in Worte verwoben. Auf den letzten Kapiteln wurden alle Handlungsfäden und Zeitsprünge zu einem schlüssigen Ganzen verknüpft.

Mein Fazit: David Whitehouse hat mit »Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek« mein Herz mit seinen Worten umdekoriert. Er setzte mich zusammen mit seinen tiefgründigen und nicht minder literaturverliebten Protagonisten in einen Bücherbus. Was könnte es Schöneres geben? Der britische Autor schuf ein originelles Abenteuer, das meine Seele sanft berührte und zu der Erkenntnis führte, dass das Leben unglaublich hart ist – es aber immer etwas gibt, dass jenem Leben Besonderheit – und Wert verleiht. Komm aus deiner schützenden Blase, gehe in die Welt hinaus – vorzugsweise umgeben von vielen Büchern. Von ganzem Herzen empfohlen! 

 Prädikat ‘Besonderes Buch’ 2015, Kategorie Roman

Kommentare

Federfee kommentierte am 04. August 2016 um 10:01

Eine wunderbar geschriebene Rezension, die mich so neugierig macht, dass ich das Buch auf meine Liste setze.