Rezension

Lesenswert oder nicht lesenswert: das ist hier die Frage. Die Antwort - ein eindeutiges Jein.

Middlemarch - George Eliot

Middlemarch
von George Eliot

Bewertet mit 3 Sternen

Klassiker las ich zuhauf. Daran kann es nicht liegen, dass mir die Sprache bei Eliot nicht zusagte und teilweise richtig quer im Magen liegt. (Mindestens die Hälfte der seltsamen Formulierungen geht auf das Konto der Übersetzung!). Ich habe, um ein wenig anzugeben, Balzac, Flaubert, de Maupassant, Hugo, Zola, Mörike, Keller, Fontane, Gogol, Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, Gontscharow, Tschechow, Strindberg, von Keyserling, Schnitzler, Wilde, Dickens, Twain gelesen - alles Zeitgenossen von George Eliot. Deshalb kann ich mit Fug und Recht behaupten: altertümlich ja, gestelzt verquer muss es aber nicht sein und: dass die Übersetzung solcher Werke einfach ALLES ist.

Kleinstadtleben der oberen Zehntausend.

Momentan kommen wieder einige „Klassiker“ der Weltliteratur (fast) neu übersetzt auf den Markt. So auch „Middlemarch“ von George Eliot, ein Roman, auf den ich besonders neugierig gewesen bin, weil ich ihn gar nicht „von früher“ kannte. 

„Middlemarch ist das Porträt einer typischen mittleren englischen Kleinstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, schreibt Rainer Zerbst im Nachwort. Lassen wir seine Worte stehen, weil sie zutreffend sind und man bessere kaum findet. 

Die Autorin setzt ihre Protagonisten zu der Zeit in den Roman als der Kampf um jene Wahlkreisreform in England begann, die unter dem Namen Great Reform Act (1832) in die Geschichte einging und insofern schließlich ihr gutes Ende fand – die Reform sorgte dafür, dass nicht nur der Landadel und die Grafschaften eine Stimme im britischen Parlament bekamen, sondern auch Städte und „normale“ Bürger. Doch scheiterte das Bemühen darum vielmals bis man es endlich durchgesetzt hatte.

Vielerlei Protagonisten treten auf, zahlreiche Familien werden vorgestellt, man braucht eine Weile bis man ihnen allen ihre Landsitze zuordnen kann und ihre Verhältnisse durchschaut. Die Komplexität des Romans ist bezaubernd, die Vielzahl der Beziehungen unter ihnen hält das Interesse des Lesers eingermassen wach. Wie wird es mit den diversen Lebensentwürfen ausgehen, welche gelingen, welche scheitern? 

Die Figuren indessen sind trotz ihrer mit Fleiß betriebenen Innenschau durch die Autorin etwas leblos, wie Marionetten hängen sie im Seil der Autorin, die mit dem Einsetzen eines kommentierenden und reglementierenden auktorialen Erzählers, keinen Spielraum zu eigener Interpretation der auftretenden Personen gibt. Mit den Vertretern der religiösen Honoratioren rechnet Eliot in ihrem Roman ganz besonders hart ab, was wohl ihren eigenen Lebenserfahrungen entsprechen mag. 

Das Kleinstadtleben der Leute aus gutem Hause, die etwas zu sagen haben, trifft die Autorin gut: an den Gerüchten, die von Mund zu Mund gehen, scheitern auch starke Charaktere. 

Die Stärke des Romans liegt in seinen Dialogen. Diese Dialoge sind ausgefeilt und an ihnen soll man das Innere der Protagonisten erkennen. Dennoch ist die Sprache der Autorin sowohl in den Dialogen wie auch in den nachdenklichen Passagen über das Leben „wie es sich darstellt“ oft derart verkompliziert, dass viele Sätze kaum verständlich sind. Die Neuübersetzung, die sich ziemlich wortgetreu an das Original hält, trägt nicht unbedingt zum besseren Verständnis bei. 

Sehr schön sind die aufschlussreichen Fussnoten, die helfen, Personen, Namen, Orte, Geschehnisse des 19. Jahrhunderts einzuordnen, insofern lernt man dazu. 

Wenn man jedoch die Lektüre George Eliots Roman Middelmarch mit der Lektüre anderer (großer) Autoren ihrer Zeit auch nur flüchtig messen will, seien es die Franzosen oder die Russen, die man zum Vergleich heranziehen möge, die Österreicher oder die Deutschen oder auch die Amerikaner (man denke allein an Mark Twain mit seinen geschliffenen Wendungen),  allesamt mit tiefschürfenden Themen und tiefsinnigem Personal, dann schneidet Middlemarch nur mittelmässig ab. 

Gelegentlich, man möge es mir verzeihen, drängt sich sogar der Eindruck auf, man hätte eine Soap Opera vor sich. Middlemarch ist  nur - immerhin gesellschaftskritische - Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts.

Trotzdem könnte ich so ein Buch nicht schreiben, auch das wollen wir ehrlich zugestehen - und die kurze Zeit, in der die Autorin ihre "Stadtgeschichte" komponierte, sucht ihresgleichen.

Fazit: Middlemarch ist eine mal mehr, mal weniger interessante Beschreibung darüber, wie es zugeht in der feinen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Doch das Buch hat Längen über Längen und seine Sprachfähigkeit reicht nicht an die anderer, vorgenannter, Klassiker heran.

Kategorie: Belletristik
Verlag: dtv, 2020