Rezension

Lesenswert, spannend, gut gemacht

2040 -

2040
von Patrick Baumann

Bewertet mit 4 Sternen

Kurzrezension zu 27 Seiten Leseprobe

https://www.patrick-baumann.de/2040-tag-der-deutschen-einheit/

Zum Verständnis: Zwar lebt der Berliner Autor Patrick Baumann seit einiger Zeit in Görlitz, doch hatten wir bislang keinen persönlichen Kontakt. Alles, was ich über ihn weiß, entnahm ich seiner Website und dem Artikel "Neue Bücher aus Görlitz und Umgebung" der Sächsischen Zeitung vom 19.10.2021, längst hinter der Paywall verborgen. Sofort nach Erscheinen machte ich einen Screenshot, als Grafik anbei.

https://www.saechsische.de/goerlitz/neue-buecher-aus-goerlitz-messe-thriller-patrick-baumann-kultur-literatur-billardzubehoer-5545736-plus.html

Okay, es ist Patrick Baumanns erster Roman, im Selfpublishing veröffentlicht, sogar einen der raren SZ-Rezensionen hat er ergattert und seine Website ist hochmodern, absolut Unser-freundlich. Aber kann er auch schreiben? Ich bin es leid, miserable Thriller so genannter Bestsellerautoren lesen, die von deutschen Großverlagen mit all ihrer Marktmacht in die Buchhandlungen gepusht werden. Wen nicht so etwas lese, poste ich auf LovelyBooks gnadenlos Verrisse, siehe "Das Bitcoin Komplott" und "Die Tote im Container". Ich lasse mich nicht kaufen und gebe auch keine Freundschaft-Rezensionen ab. Dazu liebe ich gute Literatur viel zu sehr. Nun wollen wir mal sehen. Kleine Pause, die Leseprobe will verköstigt werden ...

Große Erleichterung. Der Text ist frei von Adjektivitis, der heutzutage unter so genannten Bestsellerautoren weit verbreiteten Füllwortkrankheit. Die Figuren werden nicht durch Anhäufung nichtssagender Eigenschaftswörter beschreiben, sondern gezeigt, in ihren Gesten und Handlungen, ihrer Wortwahl und inneren Dialogen. Die multipersonale Erzählweise ist klar ausgeprägt, führt schon auf der ersten Seite des Leser mit ruhiger Hand. 

Auch ist es mutig, als Erzählzeit das Präsens zu wählen, anstatt im leider noch etablierten Präteritum zu schreiben. Dies hilft, ohne holperiges Plusquamperfekt Rückblenden einzubauen. Bereits auf der zweiten Seite gibt es s eine, erkennbar durch Wechsel von Gegenwartsform zur Vergangenheit. Normalerweise ein No-Go gerade im Thriller-Genre. Rückblenden, die den Erzählfluss automatisch bremsen, sollten gerade beim Thriller möglichst spät eingesetzt werden – auch weil die Gefahr von Infodumping besteht. Der Leser soll nicht gleich am Anfang mit Informationen zugeschüttet werden. Wichtig ist es, eine Identifikation mit den Protagonisten herzustellen. Gelingt dies gut, folgen wird der Erzählung des Autors, wohin auch immer er uns führt.

Die Sätze werden kurz gehalten, wie in der Actionszene gleich zu Beginn, was Tempo bringt. Okay. Länger werden sie dann bei der schnell einsetzenden Rückblende inmitten des dritten Absatzes der zweiten Seite. Auch Okay, aber in der Folge verlangt der Autor nach meinem Gefühl zu viel vom Leser. Besagte Identifikation mit den Figuren ist zumindest bei mir noch nicht geschehen, da werde ich schon mit zu viel Details und Handlung konfrontiert. Dies ist ein Kritikpunkt, den ich nicht außen vor lassen kann. 

Als Erstlingswerk ist "2040 - Tag der Deutschen Einheit" handwerklich nicht viel vorzuwerfen. Durch meine Lektorentätigkeit springen mir Rechtschreib- und Grammatikfehler normalerweise sofort ins Auge. Ist hier wirklich nichts. Spaßeshalber habe ich die Leseprobe durch die exzellente Rechtschreibkorrektur der Autorensoftware Papyrus Autor gejagt. Vom Korrektorat her nichts zu beanstanden. 

Das Krimi- und Thrillergenre nicht zur großen Literaturgattung. Neben dem schon erwähnten muss der Plot stimmen, Spannung in Wellen auf- und abgebaut werden, die Story gut vorankommen und Überraschungen bieten. Sonst springen die Leser ab. Die literarische Qualität an sich wird hier weniger geachtet. Insofern kann ich nach Durchsicht von 27 der 336 Seiten vier Sterne vergeben.

Dennoch: Großen Thrillerautoren wie Stephen King und John Grisham habe lange an ihren schriftstellerischen Fähigkeiten gearbeitet, nicht zu vergessen die Australierin Liane Moriarty. Sie haben Maßstäbe gesetzt. Ich denke, sie haben große Literatur geschaffen – genau wie der folgend erwähnte Michel Houellebecqs. Letztendlich ist dem Autor von "2040 - Tag der Deutschen Einheit" zu wünschen, dass er sich weiterentwickelt, ein wenig Druck raus nimmt und den Lesern Zeit gibt, in die Story hineinzuwachsen. Raus aus der Großstadthektik, rein in die entschleunigende Provinz, so lässt sich das folgende Zeitungsinterview lesen. Mal sehen, wann der nächste Roman des Autors erscheint. "Wer in Görlitz nicht hundert Jahr warten kann, gilt als Hektiker" sagt man hier.

Fazit: Patrick Baumanns Thriller ist in gewisser Weise ein Pendant zu Michel Houellebecqs gesellschaftskritischer Dystopie "Unterwerfung" geschrieben, nur dass bei ihm sich nicht Konservative und Sozialisten hinter einen muslimischen Präsidentschaftskandidaten vereinen, um einen Wahlerfolg der Rechtsradikalen zu verhindern. Nein, Baumann macht den Durchmarsch und lässt Berlin, (noch) arm und sexy, im Jahr 2040 von Nationalsozialisten regieren, wie einst 1933 bis 1945. 

Nicht schlecht geschrieben, das Ganze, sofern das Buch hält, was Leseprobe und Cover-Teaser versprechen. Sofern der Autor die Einladung zum Bücheraustausch annimmt, in meinem Stammrestaurant Przy Jacubie bei traditionell warmem polnischen Winterbier Piwo Grzane mit Zimtstangen und Orangenscheiben (eine wahre Köstlichkeit!), wird diese Rezension fortgesetzt. 

Görlitz, das ist mehr als nur der Wurmfortsatz des Kifferparadieses Görlitzer Bahnhof in Berlin-Kreuzberg. 

Je nachdem, wie man auf uns schaut, ist die östlichste Stadt Deutschland ein verschnarchtes Kaff, in dem sich Hinterwäldler als kleine Könige gebärden und ihre schäbigen Hinterhöfe erbittert gegen Fremdlinge verteidigen, ein Hort des Bösen gleich Mordor im Herrn der Ringe, Dunkeldeutschland mit degenerierten Ossi-Zombies, wie es der München dtv-Verlag geschäftstüchtig über einen allseits präsenten Bestsellerautor verbreiten lässt.

The Middle of Nowhere.

Oder aber? Görlitz/Zgorzelec, als Filmstadt durch "Inglorious Basterds", "Grand Hotel Budapest", die zwölfteilige Serie "Torstraße 1" (demnächst im RTL-Streamingdienst TV no) schon seit Jahrzehnten über Bildschirme und Kinoleinwände flimmernd, als hier DDR-Märchenfilme gedreht wurden, ist das Zentrum Europa, durch deren Mittelpunkt mit 15 Grad östlich von Greenwich der Meridian der Mitteleuropäischen Zeit läuft. 

Man kann sich den Westteil unserer Beinahe-Großstadt als Westberlin denken und den Ostteils als Ostberlin, geteilt und vereint durch den Neiße-Fluss, quasi jener gute alte Todesstreifen, der Rest- und Rostberlin einst teilte – bloß dass es hier bei uns keinen Schießbefehl gibt, sondern Brücken, auf denen getanzt und gefeiert.

Old Europe und New Europe im Culture Clash