Rezension

Let's twist, Lehane!

Gone Baby Gone - Dennis Lehane

Gone Baby Gone
von Dennis Lehane

Mitten in der Nacht wird die vierjährige Amanda aus ihrem Kinderzimmer entführt. Noch während der polizeilichen Ermittlungen werden die Privatdetektive Patrick Kenzie und Angela Gennaro von der Familie des Mädchens engagiert, das kleine Mädchen zu suchen. Sie geraten in einen Fall, der wohl die hartgesottensten Ermittler an ihre Grenzen bringen kann. Als sie der Wahrheit im Fall Amanda auf den Grund gehen müssen sie eine grundlegende Entscheidung treffen.

„Gone Baby Gone“ ist der vierte Fall für Kenzie und Gennaro und er ist wahrlich „Kein Kinderspiel“, wie dieser Kriminalroman aus der Feder von Dennis Lehane in einer früheren Auflage hieß. Kenzie und Gennaro verbindet eine langjährige berufliche und mittlerweile auch private Partnerschaft. Sie stammen beide aus dem üblen Bostoner Viertel Dorchester, wo auch der aktuelle Fall handelt.

Anders als die Polizei müssen sich die beiden Privatermittler nicht immer ganz so streng ans Protokoll halten. Erstaunlicherweise funktioniert die Zusammenarbeit der „Schnüffler“ mit den Cops Poole und Broussard gut, nachdem sie ihre Reviere ordentlich abgesteckt haben.

Denn das Revier kennen Patrick und Gennaro, kennen die guten, die bösen und die ganz bösen Jungs im Viertel, haben beste Verbindungen in die heimische Unterwelt und auch selbst so manche sprichwörtliche Leiche im Keller. Die raubeinigen „hardboiled“ Helden des amerikanischen Detektiv- und Kriminalromans finden mit Angie Gennaro ein weibliches Gegengewicht. Anlegen sollte man(n) sich mit Angie aber trotzdem nicht.

Genaugenommen müssten Kenzie und Gennaro den Fall nicht annehmen, finanziell stehen sie gerade gut da. Nur der Hartnäckigkeit von Beatrice, der äußerst besorgten Tante des entführten Kindes, ist zu verdanken, dass sie sich überreden lassen.  Amandas Mutter Helene ist da ein ganz anderes Kaliber und trotz größter Bemühungen lässt sich an ihr kein einziger sympathischer Zug feststellen. Sie hat Amanda wiederholt vernachlässigt, trinkt, treibt sich mit Kriminellen herum. Sie ist dumm, verschlagen, empathielos. Geradezu ein Paradebeispiel an White Trash, die dafür sorgten, dass Amerika jemanden wie Trump groß machen konnte. Helenes Verbindung zu einem örtlichen Drogendealer bietet bald die heißeste Spur. Doch es wäre nicht Dennis Lehane, der Meister der Wendungen, wenn er hier nicht mit uns einen ganz ganz heißen Twist hinlegen würde. Und wieder einmal schafft es der Autor, der die Bostoner Unterwelt wie kein zweiter erzählt (selbst sein Autorenfoto wirkt auf mich wie ein Mugshot), mehrfach zu überraschen. Gone Baby Gone ist nicht nur ein actionreicher Abstecher in eine kriminelle und niederträchtige Welt menschlichen Abschaums. Lehane stellt sich auch gesellschaftskritischen Fragen, wenn das System gegenüber der Menschlichkeit versagt. Er öffnet die Grenzen zwischen Gut und Böse, richtig und falsch und lässt mich lange nachdenken.