Rezension

Liebenswerter Krimi oder spannender Liebesroman?

Ich bin ein Laster - Michelle Winters

Ich bin ein Laster
von Michelle Winters

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Ist es ein Kriminalroman? Oder doch eine Liebesgeschichte? „Ich bin ein Laster“, der nur 140-seitige Debütroman der kanadischen Schriftstellerin Michelle Winters, ist beides - ein liebevoller Kurzkrimi, der zu Recht für die Shortlist des kanadischen Giller Prize 2017 nominiert war. In der tragikomischen Emanzipationsgeschichte geht es um Einschränkung, aber auch um Befreiung, um Liebe und Verlust, um Tradition und Aufbruch also um die Frage wohl eines jeden, was wir sind und was wir sein wollen.

Auch nach 20 Jahren sind Agathe und ihr hünenhafter Holzfäller-Ehemann Réjean noch immer verliebt. Kleine Notlügen wie Réjeans jetziger Aufbruch zum Angelausflug verzeiht man sich. Doch als er nicht zurückkommt und sein geliebter Chevrolet Silverado unverschlossen am Straßenrand gefunden wird, stellt sich die Frage: War es Mord, eine Entführung oder ist Réjean nur weggelaufen? Als nach Wochen der trauernden Agathe das Geld ausgeht, fängt sie in einem Elektroladen zu arbeiten an. Durch ihre dortige Kollegin Debbie lernt sie ein ihr bisher fremdes Leben kennen. Etwas unheimlich wird es, als Autoverkäufer Marzin Bureau, der einzige Freund Réjeans, sie wie ein Stalker zu verfolgen beginnt. Als schließlich der verlorene Ehemann doch wieder auftaucht, muss Agathe sich entscheiden für ihr altes oder ein neues Leben.

„Ich bin ein Laster“ ist eine Geschichte voller Wendungen und Gegensätze. Winters zeigt den Zwiespalt, das Gemeinsame und doch Trennende in der kanadischen Provinz der 1980er Jahre, den Zusammenprall zwischen anglo- und frankophoner Kultur. Während Réjean ausschließlich Französisch spricht, ist Englisch die Muttersprache seines Freundes Martin Bureau. Die alltägliche Vermischung beider Landessprachen führt zum zweisprachigen Kauderwelsch, das auch in der deutschen Übersetzung von Barbara Schaden im originalen Wortlaut reizvoll beibehalten wurde.

Aus Ablehnung gegen die Übermacht amerikanischen Einflusses liebt Réjean seinen Chevrolet Silverado, während ausgerechnet der anglophone Chevrolet-Verkäufer Martin privat und heimlich seinen Ford-Geländewagen fährt. Während für Réjean nichts anderes als frankokanadische Folkmusik aus dem Autoradio kommen darf, liebt Agathe die amerikanische Rock- und Popmusik, in deren lebensfrohe Welt sie sich später von Kollegin Debbie bei nächtlichen Disco-Besuchen gern entführen lässt.

Diese manchmal absurde Welt voller Gegensätze kommt auch in der Dramaturgie des Romans zum Ausdruck. Die einzelnen Kapitel wechseln zwischen Davor und Jetzt, zwischen dem alten und dem neuen Leben. Wir beobachten, wie sich Agathe allmählich aus der Umklammerung befreit, durch die ihr bisheriges Leben eingeengt war. „Es ist doch nie zu spät. Es ist nie zu spät für irgendwas.“

Doch nicht nur Agathe befreit sich aus ihrer provinziellen Enge, wenn auch der letzte Schritt, mit Debbie in die Großstadt zu gehen, ausbleibt. „Ché pas … E could come home asoir.“ Denn während wir Agathes Wandel in wachsende Selbstständigkeit begleiten, löst sich beiläufig auch das mysteriöse Rätsel um das Verschwinden Réjeans. Auch er wird sich schließlich für ein völlig neues Leben entscheiden müssen. Warum Michelle Winters lesenswerte Geschichte mit ihren so liebenswerten Charakteren allerdings auch im Original mit „I am a truck“ betitelt ist, bleibt ein Rätsel.