Rezension

Liebevolle Coming-of-Age Geschichte, die sehr berührt

22 Bahnen -

22 Bahnen
von Caroline Wahl

Bewertet mit 4.5 Sternen

Tilda studiert Mathematik und schreibt ihre Abschlussarbeit. In der Mathemaik fühlt sie sich wohl, Zahlen geben Tilda Ordnung und Sicherheit. Seit ihr Vater Tilda und die Mutter verlassen hat, verschlechtert sich der Zustand der Mutter zunehmend- sie ist Alkoholikerin. Aber Tilda bekommt kurze Zeit später noch eine Schwester Ida und wird für sie wie eine Mutter. Als ihr Professor Tilda nahelegt, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, ist sie hin und hergerissen. Einerseits sorgt sie sich um ihre nun 10jährige Schwester, andererseits ist sie stolz und glücklich über das Angebot. Und dann sind da auch noch Viktor, schwer zu verarbeitende Schicksalsschläge und riesige Libellen.

Caroline Wahl erzählt hier eine Coming-of-Age Geschichte in sehr frischer Art und Weise. Gleich der Beginn, wo Tilda im Nebenjob an der Supermarktkasse anhand der gekauften Dinge errät, wen sie vor sich hat, bevor sie den Blick hebt, ist super erfrischend und macht direkt Lust weiterzulesen. Ansonsten ist der Stil eher nüchtern. Viele Zahlen begegnen uns - Tildas Sicherheiten im Leben - alles wird gezählt. Besonders, wenn sie unsicher ist. Schöner Kniff! Auch sonst verstehe ich die Knappheit der Sprache als stilistische Finesse, um Tildas unsicheren und gleichzeitig kämpferischen Charakter zu zeichnen. Das ist der Autorin supergut gelungen.

Und dann haben wir die kleine Schwester Ida, die quasi von Tilda großgezogen wird, weil die Mutter abwechselnd im Alkoholrausch oder in einer Depression gefangen ist. 

Wie dieses Leben funktioniert und wie traurig es oft für die Mädchen ist, wird eindrucksvoll geschildert. Augenmerk wird hier auf die Mädchen gelegt, die gezwungen sind, sich in einer solchen dysfunktionalen Familie zurechtzufinden. Toll ist die Entwicklung der kleinen Tilda zu beobachten. Vielleicht ist im Roman am Ende vieles anders geschildert, als es in der Realität ist. Das kann ich schlecht beurteilen. Ich frage mich zum Beispiel, warum das Jugendamt nicht ein einziges Mal auf der Matte steht während der ganzen Jahre. Und ob ich meine 10jährige Schwester mit der kranken Mutter allein lassen würde, um zu promovieren… Oder auch, ob sich ein so junges Kind bereits von der (aufgrund ihrer Krankheit) zerstörerischen Mutter befreien kann… Am Ende sind ein paar Fragen offen, wie es wohl weitergeht. Es ist dennoch ein hoffnungsvolles Ende.

Sehr zartfühlend, behutsam und gleichzeitig mit einer angenehmen erzählerischen Frische liest sich das Debüt von Caroline Wahl. Eine Liebesgeschichte von der Liebe zwischen Schwestern und auch der Liebe zweier traumatisierter, sehr vorsichtiger Menschen zueinander. So sanft, dass mir zuweilen das Wasser in die Augen gestiegen ist. Wirklich schön und trotz kleiner Abstriche/offener Fragen sehr zu empfehlen.