Rezension

Liebevolle Milieustudie Brooklyns

Ein Baum wächst in Brooklyn - Betty Smith

Ein Baum wächst in Brooklyn
von Betty Smith

Bewertet mit 4.5 Sternen

Betty Smith verarbeitet in ‚Ein Baum wächst in Brooklyn‘ ihre Kindheits- und jungen Erwachsenenerlebnisse im New Yorker Stadtteil Brooklyn zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt hier auf, dass die schwierigsten Verhältnisse oft die besten Menschen hervorbringen.

Die junge Heldin des Romans, Francie, und ihr Bruder Neely sind es seit Kindesbeinen an gewohnt, in armen bis ärmsten Verhältnissen zu leben. Ihr Leben richtet sich grundsätzlich nach den Vorstellungen ihrer patenten Mutter Katie, die mit den Kindern jeden Tag Shakespeare und in der Bibel liest, selbst Klavierunterricht nimmt (günstiger), um es anschließend ihren Kindern weiterzulehren, und die die Familie mit mehreren Putzstellen über Wasser hält. Vater Johnny trägt als singender Kellner kaum etwas nicht-musikalisches zum Familienleben bei und verliert sich leider viel zu früh an den Alkohol. 

Smith’s für den Pulitzerpreis nominierter Roman zeigt leise und indirekt, dass, wo Liebe wohnt, das Leben, egal in welchen wirtschaftlichen Umständen, schön ist. Katie hält Johnny, trotz aller seiner Verfehlungen die Treue und steht zu ihm, weil sie ihn liebt. Sie ist in der Lage, immer noch den umwerfenden jungen Mann in ihm zu sehen, in den sie sich als Mädchen verliebt hat, und akzeptiert ihn, wie er ist. Was er nicht leisten kann, nimmt sie in die Hand. Ein wertvolles Beispiel für alle Verheirateten. Die Familie ist eine Einheit. 

In jungen Jahren sammeln Francie und Neely Schrott, um ein paar Münzen zu verdienen, gewinnen als Team den Tannenbaum, den sie kaum tragen können und arbeiten neben der Schule bzw. statt der Highschool. Insbesondere Francie als die älteste ist sich hier ihrer verantwortungsvollen Rolle immer bewusst. Sie ist Leseratte und extrem schlau, analysiert sich selbst, ihre Lebenssituation und die Menschen um sich herum treffend und liebevoll. Als sie eine Grundschule sieht, die ihr besser und weniger überlaufen scheint, als ihre eigene, organisiert sie es, dass sie dorthin wechseln kann. Dort landet sie in einem Milieu, in dem sie gefördert wird und ihre Leidenschaft fürs Schreiben entwickeln kann. 

Der große Knackpunkt geschieht dann, als Francie ‚erwachsener‘ wird und beim Schreiben zu sich selbst findet und statt einer gefälligen, poetischen Idealversion ihre Wirklichkeit zu Hause schildert. Ihre Lehrerin sagt ihr dann zwar ‚Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit.‘, bewertet Francies wahre Geschichte aber sehr viel schlechter, als alle ihre Aufsätze zuvor. Doch für Betty Smith ist dieser Grundsatz, den die Lehrerin (vielleicht tatsächlich) gegeben hat, offensichtlich zum Erfolgskredo geworden: ‚Ein Baum wächst in Brooklyn‘ fesselt nicht mit einer spannenden Story, sondern hält einen durch die sympathischen, ehrlichen Charaktere, von denen keiner perfekt ist, die aber vor allem durch ihre Loyalität füreinander überzeugen, interessiert beim Lesen und so begleitet man die kleine Familie gerne durch 1,5 Jahrzehnte. 

Lehrreich und wertvoll, zu lesen, wie man auch mit wenig materiellem ein extrem erfülltes Leben führen kann. 

Das einzige, was mir fehlt, war, da man ja weiß, dass der Roman autobiographisch inspiriert ist, dass nicht berichtet wurde, wie Francie schließlich zum professionellen Schreiben kommt. Es scheint im Buch fast, als würde ihr dieser Weg verwehrt bleiben. Vielleicht hat Betty Smith aber auch gedacht, ihr Buch zeigt mehr als überdeutlich, dass sie es doch noch geschafft hat, dann muss das nicht noch extra (evtl. mit einem zu großen Zeitsprung für die Geschwindigkeit des Romans) erzählt werden. Umwege gehören auch zum Leben, und so wie Francie trotz Rückschlägen ihr Ziel nie wirklich aus den Augen verloren hat, ist auch ihre symbolische Entsprechung, der Baum im Hof, der weder Sonne noch Gießen wirklich erleben durfte, gefällt und verkokelt wurde, trotzdem weiter gewachsen. Die Widrigkeiten des Lebens in Brooklyn haben ihn stark gemacht, und so sind auch die Kinder, die aus diesem Stadtteil kommen, wenn sie denn die richtigen Entscheidungen treffen, die stärksten ihrer Art. 

Ein schönes Buch. Zu Recht ein Klassiker.