Rezension

Literarischer Hochgenuss über fast vergessene Personen der deutschen Geschichte

Alles, was ich bin - Anna Funder

Alles, was ich bin
von Anna Funder

Bewertet mit 5 Sternen

„Es ist nicht so, dass es den Menschen an Phantasie mangelt. Es ist so, dass sie sich deren Gebrauch versagen. Denn wenn man sich einmal solches Leiden vorgestellt hat, wie kann man dann weiterhin nichts tun?“ (S. 413)

Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, jubeln viele. Doch Ruth und ihrem Mann Hans, beide Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, schwant Böses. Zusammen mit ihrem Freundeskreis, dem Schriftsteller Ernst Toller, Ruths Cousine Dora Fabian und anderen USPD-Mitgliedern müssen sie schon bald die ersten Repressalien der Nazis erdulden. Toller und andere Sozialisten und Kommunisten werden nach dem Reichstagsbrand ausgewiesen, für staatenlos erklärt und verhaftet. Dora, Tollers Geliebter, geling es, seine Schriftstücke und eine angefangene Biographie außer Landes zu schmuggeln. Ruth und Hans flüchten über Frankreich nach London, wo sie wieder mit Dora und Toller zusammentreffen. Wie die anderen Oppositionellen im britischen Exil wollen sie Hitlers Machenschaften und die heimliche Wiederaufrüstung Deutschlands mit dem Ziel, einen Krieg anzuzetteln, an die britische Öffentlichkeit bringen. Doch politische Aktivitäten der Emigranten sind in Großbritannien verboten und die Freunde fürchten nicht nur die drohende Ausweisung sondern auch die Spione der Gestapo. Trotzdem leisten sie dem Regime weiter Widerstand aus dem Exil heraus. Letztendlich aber wird ein Verrat das Leben von Ruth und den anderen zerstören….

Der Autorin ist ein großartiger Roman gelungen, der auf wahren Begebenheiten basiert. Anna Funder hat die echte Ruth in Australien vor ihrem Tod interviewt und ihre Erinnerungen sowie die recherchierten Ereignisse um Dora Fabian und Ernst Toller hervorragend zu einem quasi-biografischen Roman zusammengefügt, der nicht nur Geschichtsinteressierte begeistern dürfte. Sprachlich sehr ausdrucksstark und in Rückblenden aus Tollers Sicht 1939 und Ruths Erinnerungen zur heutigen Zeit wird ein fast vergessenes Kapitel des deutschen Widerstandes erzählt. Ich interessiere mich sehr für die deutsche Geschichte, doch nicht einmal im Schul-Leistungskurs sind die Namen Dora Fabian oder Ernst Toller je gefallen. Literatur über die Verfolgung der Juden und die Widerstandskämpfer um Stauffenberg oder der Weißen Rose sind zahlreich, Anna Funder hat sich den vielen anderen gewidmet, die als Erste, die Lager und Gefängnisse füllten: nämlich die politische Opposition, (jüdische) Intellektuelle und Künstler, die der nationalsozialistischen Anschauung nicht passten. Es folgte zwar ein Exodus der Opposition und der jüdischen Intellektuellen, doch im europäischen Ausland waren sie immer noch nicht sicher. Da die Briten unter ihrer „Appeasement“-Strategie die wahren Ziele Hitlers zu spät erkannten, boten die Behörden den Flüchtlingen nicht genügend Schutz und der lange Arm der Gestapo reichte bis nach London.  Neben den Anfängen der Nazi-Herrschaft bekommt der Leser auch einen Einblick in das Berlin der Zwanziger Jahre, die Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs und den ersten Weltkrieg selbst, meist durch die Erinnerungen von Ernst Toller.
Ich fand es sehr faszinierend, wie Anna Funder die historischen  Personen erzählen lässt und wieder zum Leben erweckt, statt eine bloße Biografie zu schreiben.  „Alles was ich bin“ ist ein literarisches Highlight, vor allem für Interessierte an der deutschen Geschichte. Ich bin begeistert und freue mich, dass der Roman nun auch hierzulande erschienen ist.