Rezension

Lost in the Darknet - fast ein Thriller

Creep -

Creep
von Philipp Winkler

Bewertet mit 3 Sternen

„Wann immer sie im IRL Menschen sieht, muss sie an mit Macheten abgehackte Köpfe, schrundige Schrotpatronenwunden, gepfählte Torsi, an herausgeplatzte Augäpfel, an Blut, offene Wunden, aus Körpern hängende Eingeweide, an den Klang erstickenden Gurgelns, Röchelns, an Schreie und Stoßgebete denken. An die pergamentene Schwelle zwischen lebendig und tot sein. Und an den großen dummen Scherz, der menschliche Würde genannt wird und der nichts als eine Illusion ist.“

„Creep“ bedeutet „schleichen, kriechen“. Sich ungehört und unbemerkt bewegen. Im Song „Creep“ von Radiohead lehnt sich die Bedeutung eher an das Adjektiv an: „Creepy“ bedeutet „unheimlich, gruselig“. Beides passt auf die zwei Hauptfiguren in Winklers neuem Roman. Es geht um die erste Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Die ja schon unter uns weilt – aber dennoch liest sich „Creep“ wie eine Dystopie. Junge Menschen, überfordert oder verletzt IRL, im realen Leben, suchen ein Ersatzleben im Internet und/oder Darknet. Sie suchen Zugehörigkeit, Sinn, Rache. Wurden Winklers Protagonisten erst depressiv durch das, was in ihrem Leben schief lief, und wandten sie sich dann der digitalen Welt zu, oder war es umgekehrt? In Sachen WWW und Asoziale Medien stehen wir am Anfang einer Entwicklung – wo soll das hinführen?

Junya lebt in Japan. Er hat nach der Uni den in Japan extrem engen Absprung ins Berufsleben nicht geschafft. Er stottert und ist sein Leben lang nur gedemütigt worden. Seit 10 Jahren hat er sein Jugendzimmer nicht mehr verlassen – außer manchmal nachts, wenn er in fremde Wohnungen einbricht und Leuten im Schlaf den Schädel einschlägt. Seine Untaten filmt er und lädt sie als Hammer_Priest ins Darknet hoch. Es schmeichelt ihm, wenn ein cooler Teilnehmer namens GermanVermin seine Beiträge liked.

Fanni, Anfang 30, lebt in einer deutschen Großstadt und arbeitet für eine Firma, die Überwachungskameras vertreibt. Sie bearbeitet zwecks Softwareverbesserung die aufgenommenen Videos und stalkt privat die Kameras einer Kleinfamilie, zu der sie Zuneigung gefasst hat. Der ältere Bruder der besten Freundin konfrontierte sie als Kind systematisch mit abartigsten Videos. Egal, was sie heute IRL sieht, es triggert Flashbacks dieser grausamen Videoszenen. Dann wird ihr klar, dass die Firmendaten, die sie illegal verkauft, von einem Serientäter genutzt werden. Sie erkennt: Nur sie kann GermanVermin stoppen.

Wie schon in „Hool“ ist Winkler in der Wahl seiner Stilmittel nicht zimperlich. Horror-Motive spielen eine große Rolle, vor allem der stilbildende japanische Film „Ringu“, gedreht schon 1998, in der der Geist eines  Mädchens durch den Fernseher  fremde Wohnungen heimsucht. Trotz der Untaten seiner Protagonisten gelingt es dem Autor, für sie Mitgefühl zu wecken. Beide erleben in ihrer Entwicklung eine Katharsis, beide laufen zu einer Art Heldentum auf – bei Fanni halbwegs glaubwürdig, bei Junya schwer nachvollziehbar – diese Richtung ist in der Figur nicht angelegt. Insofern ist die Charakterzeichnung zwar durchaus tiefgründig, aber nicht immer ganz schlüssig bzw. kam mir zu eilig vor und hätte für eine überzeugende Ausformung etwas mehr Zeit gebraucht.

„Creep“ hätte durchaus das Zeug zu einem veritablen literarischen Thriller gehabt. Aber mir fehlte strukturale Stringenz. Wenn ein Roman wie ein Thriller anfängt, Fragen aufwirft, einen Spannungsbogen aufbaut und Verbindungen andeutet – dann möchte man eine überzeugende Auflösung bekommen. Das geht auch mit einem offenen Ende, aber leider Fehlanzeige. Keine Auflösung, die Story zerfasert, die Protagonisten begegnen sich nie. Einzige „Verbindung“: das Internet. Insgesamt wirkt der Roman unfertig, konzeptionell nicht ganz zu Ende gedacht. Als habe der Autor Fragen aufgeworfen, zu denen er selbst nach einer Antwort sucht. Was ja ok ist. Nur dann halt bitte nicht als Thriller anfangen und als philosophisches Essay beenden.  

Auch sprachlich macht Winkler es der Leserin nicht leicht. Vor allem, wenn Winkler seine männlichen Protagonisten mündlich und schriftlich lange Erklär- und Rechtfertigungsreden schwingen lässt, ist mir das zu didaktisch; da hätte ich mir subtilere Erzählmittel gewünscht. Obwohl ich anfangs sehr willens war, mich auf eine nerdige Sprache einzulassen, fühlte ich mich zunehmend zugeschmissen. In Fannis Strang wird zudem durchgängig gegendert; fand ich cool, aber so manche/r ist dann raus. Dazu noch jede Menge IT Jargon und Anglizismen. In Junyas Erzählstrang ständig japanische Vokabeln - dauerndes Googeln stört den Lesefluss und NERVT. Einfach überlesen – kann man machen, aber es geht eine Ebene verloren. Ein Glossar am Ende des Buches oder gar Fußnoten gab es nicht. Schade. Aber am schlimmsten: mir gehen die bloßen Beschreibungen der Videos nach, die sich Winklers Protagonisten ansehen. Schon das ist mir zu viel.

Fazit: Gute Ansätze, durchaus fesselnd und berührend, aber konstruktiv enttäuschend. Und: Nichts für schwache Nerven!