Rezension

Macht nachdenklich

Verlassene Nester -

Verlassene Nester
von Patricia Hempel

Bewertet mit 3.5 Sternen

Der Roman „Verlassene Nester“ bietet eine vielschichtige Erzählung, die in der Zeit nach der Wiedervereinigung spielt und sich mit den Spannungen und Unsicherheiten dieser Ära auseinandersetzt. Der Sommer 1992 im ehemaligen Grenzgebiet der Elbe wird hier zu einer Übergangsphase, nicht nur für das Land, sondern vor allem für die Protagonistin Pilly und ihre Umgebung. Mit der Schilderung ihrer Suche nach Zugehörigkeit und der Ergründung der Dynamiken in ihrer zerrütteten Familie stellt der Roman Fragen nach Identität und dem Umgang mit Veränderungsprozessen.

Was mich besonders angesprochen hat, ist die eindringliche Sprache des Romans und die vielschichtige Darstellung der Charaktere. Viele Perspektivwechsel zeigen verschiedene Sichtweisen auf die Ereignisse im Dorf, die die Leserschaft wie Puzzleteile zusammensetzen muss. Gerade dieser erzählerische Ansatz, der das Fragmentarische der Geschichte betont, spiegelt die Verwirrung und Orientierungslosigkeit wider, die die Menschen kurz nach der Wiedervereinigung im Dorf empfinden.

Eine Herausforderung des Romans liegt jedoch darin, dass er subtil mit historischen und politischen Kontexten spielt, die nicht jeder Leser oder jede Leserin unmittelbar parat haben mag. Das kann einerseits ein Anreiz sein, sich tiefer mit der Geschichte auseinanderzusetzen, andererseits könnte es dazu führen, dass bestimmte Nuancen und kritische Themen unbeachtet bleiben. Für diejenigen, die den Roman ohne Hintergrundwissen lesen, bleibt möglicherweise ein Teil der gesellschaftskritischen Tiefe verborgen, die das Buch zu bieten hat - z.B. die Gleichgültigkeit der Dorfbewohner:innen gegenüber den Anschlägen auf Vertragsarbeiter:innen und ihre Weigerung, ihnen gegenüber Empathie zu empfinden und diese zu Wort kommen zu lassen, weil sie vor allem mit sich und eigenen Sorgen beschäftigt sind. Trotzdem könnte darin auch eine Stärke von „Verlassene Nester“ liegen: Es bietet Raum für Interpretation und fordert eine aktive Leserschaft, die bereit ist, sich mit den komplexen Verstrickungen von Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. 

Insgesamt empfinde ich den Roman daher als gelungen, besonders wegen seiner Sprache und der vielschichtigen Erzählweise. Aber ich bin unsicher, ob er für jede Leserin und jeden Leser gleich zugänglich ist. Vielleicht liegt darin aber auch seine Qualität: Er bietet eine Lektüre, die nicht sofort alles preisgibt, sondern zur Reflexion und zum Nachdenken anregt.