Rezension

Mahnmal der Machtlosigkeit

Ich bleibe hier
von Marco Balzano

Was würden wir tun, wenn man die Welt, in der wir leben, vor unseren Augen vernichtet? In seinem Roman "Ich bleibe hier" erzählt Marco Balzano, vor dem Hintergrund der tatsächlich geschehenen Flutung des Südtiroler Dorfes Graun, die Geschichte einer Frau, der man alles nimmt. Heute unvorstellbar, denkt man. Bis einem zum Beispiel der Braunkohletagebau einfällt: Die Liste abgebaggerter Ortschaften auf Wikipedia wird von Jahr zu Jahr länger.

Man kann jedes Buch auf ganz verschiedene Arten lesen. Als Leser liest man daher nicht ein Buch, sondern sein Buch. Und vielleicht ist ein Roman umso besser, je mehr individuelle Bücher in ihm stecken. In „Ich bleibe hier“ stecken viele Geschichten, zunächst eine wirkliche, die Sprengung und anschließende Flutung des Südtioler Ortes Graun im Jahr 1950.

 

Darüber hinaus gibt es aber auch Geschichten über das Dorfleben, eine Familie, ein Land, eine Gesellschaft zwischen drei Ländern, über Kriege und das Leid für die Menschen, über Liebe, über Vertreibung, über Enttäuschungen, Standhaftigkeit, Brutalität und Skrupellosigkeit. Doch für mich ist Marco Balzanos Buch vor allem ein Sisyphosroman und  ein beeindruckendes Mahnmal der Machtlosigkeit.

 

Wir befinden uns also im Südtiroler Bergdorf Graun, unweit von Reschen gelegen, das viele Italienurlauber vom Durchfahren des gleichnamigen Passes kennen dürften. Hier wächst die Ich-Erzählerin Trina zu einer jungen Frau heran, die vor dem Zweiten Weltkrieg, obwohl Lehrerin, den Bauern Erich heiratet, ein bescheidenes Leben führt und Sohn und Tochter zur Welt bringt.

 

Wie Sisyphos seinen Stein, rollt das Schicksal das Leben der Dorfbewohner mal auf den Berg, mal hinunter. Mal treibt sie der Krieg flüchtend in die Bergwildnis (Erich desertiert während des Krieges), dann wieder ist es das Wasser, als der Stausee geflutet wird. Der nur halb versunkene Turm ist heute ein Selfie-Point und Wahrzeichen der Region. geworden.

 

Wie das Dorf, man darf den Namen Graun durchaus (und auch mit zusätzlichem „e“ vor dem „n“) als Metapher für das Leben seiner Einwohner nehmen, hält das Leben stets kein Glück, nur Nackenschläge bereit: Die Zwangsitalienisierung Südtirols unter Mussolini, die Flucht (oder Entführung?) der Tochter, die Traumatisierung des Ehemanns, den plötzlichen Tod des Vaters erzählt Balzano in Trinas einfachen Worten und Sätzen, die die beklemmende Atmosphäre des ganzen Buches noch verstärken. Das Buch ist spannend und fesselnd, aber vor allem ist es todtraurig, erschreckend und zum Weinen.

 

Unter Hitler könnten die Südtiroler „heim ins Reich“ fliehen. Doch die Frage, ob gehen oder nicht, spaltet die Dörfler und auch die Familien. Trina Entscheidung „Ich bleibe hier“ verhalf dem Buch zu seinem Titel. Sie und Erich bleiben bis zum bitteren Ende, egal ob Mussolinis Schergen oder die Nazis einmarschieren. Selbst als der Staudamm geflutet wird und ihr Haus dem Wasser zu Opfer fällt, bleibt Trina ihrer Heimat so nah wie irgend möglich.

 

Wer dieses schmerzhafte Buch gelesen hat, wird es so schnell nicht vergessen. Und ich frage mich schon heute, mit welchen Gefühlen ich das nächste Mal den Reschenpass überqueren werde.

Ob es mir gelingt, am Grauner Kirchturm vorbeizufahren, ohne in Gedanken an Trina und Erich an- und innezuhalten?